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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Tageslicht sah der Rumpf schon jetzt viel
rauer aus, als Vasko ihn in Erinnerung hatte. Das glatte Metall war
an vielen Stellen von Korrosion zerfressen. Einige Flecken waren
schon so tief, dass er den Daumen hineinlegen konnte. Als sie den
Sack über die Seite hoben, löste sich da, wo Vaskos Knie
die Bootswand berührten, der Schorf in dicken Fladen.
    Die beiden kletterten hinein. Urton, die vor dem Eisberg warten
sollte, versetzte dem Boot einen Stoß. Scorpio ließ den
Motor an. Das Wasser schäumte auf, und das Boot schob sich durch
die Fahrrinne, die es zuvor durch das Eis geschnitten hatte, langsam
auf das Meer hinaus.
    »Wartet.«
    Vasko sah sich nach der Stimme um. Jaccottet verließ soeben
den Eisberg. Er trug den Inkubator in der Hand. Der Kasten war
sichtlich schwerer als zuvor, als Vasko ihn hineingetragen hatte.
    »Was ist?«, rief Scorpio und schaltete in den
Leerlauf.
    »Sie können nicht ohne uns abfahren.«
    »Wir fahren nicht ab.«
    »Das Kind braucht medizinische Betreuung. Wir müssen es
schnellstens aufs Festland bringen.«
    »Genau das wird geschehen. Haben Sie nicht gehört, was
Vasko sagte? Ein Flugzeug ist unterwegs. Bleiben Sie, wo Sie sind,
und alles wird gut.«
    »Bei diesem Wetter könnte das Flugzeug Stunden brauchen,
und wir wissen nicht, wie stabil der Eisberg ist.«
    Vasko spürte Scorpios Zorn wie statische Elektrizität
auf der Haut. »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, wir sollten sofort losfahren, Sir, mit
beiden Booten, so wie wir hergekommen sind. Nach Süden. Das
Flugzeug wird uns per Transponder finden. Auf diese Weise sparen wir
Zeit und brauchen nicht zu befürchten, dass uns das Ding unter
den Füßen wegbricht.«
    »Ich finde, er hat Recht, Sir«, sagte Vasko.
    »Wer hat Sie gefragt?«, fauchte Scorpio.
    »Niemand, Sir, aber ich würde sagen, wir sind jetzt alle
betroffen?«
    »Sie sind überhaupt nicht betroffen, Malinin.«
    »Clavain sah das offenbar anders.«
    Er dachte schon, das Schwein würde ihn auf der Stelle
töten. Die Möglichkeit beschäftigte ihn, während
sein Blick zu dem tiefschwarzen Auge in den Wolken wanderte. Es war
näher gekommen – höchstens noch einen Kilometer vom
Eisberg entfernt. Nun wölbte es sich nach unten und fuhr einen
Schlauch aus, der sich dem Meer entgegenstreckte. Vasko begriff, dass
er einen Tornado vor sich hatte: Das hatte ihnen gerade noch
gefehlt.
    Aber Scorpio brachte nur den Motor wieder auf Touren und fauchte:
»Kommen Sie nun mit? Sonst steigen Sie aus und warten mit den
anderen auf dem Eis.«
    »Natürlich komme ich mit, Sir«, sagte Vasko.
»Aber warum können wir nicht so vorgehen, wie Jaccottet
sagt? Wenn wir mit beiden Booten fahren, können wir Clavain auch
unterwegs bestatten.«
    »Steigen Sie aus!«
    »Sir?«
    »Ich sagte, Sie sollen aussteigen! Ich will darüber
nicht diskutieren.«
    Vasko setzte zum Sprechen an. Wenn er später an den Vorfall
zurückdachte, war ihm nie ganz klar, was er dem Schwein in
diesem Moment hatte sagen wollen. Vielleicht hatte er gewusst, dass
er die Grenze überschritten hatte und dass er nichts tun konnte,
um diesen Schritt wieder rückgängig zu machen.
    Scorpio handelte blitzschnell. Er ließ den
Steuerknüppel los, packte Vasko mit beiden Hufen und stieß
ihn aus dem Boot. Vasko spürte, wie zwei Zentimeter des
Bootsrands unter seinem Schenkel zerkrümelten wie Schokolade.
Dann schlug er mit dem Rücken auf eine dünne, morsche
Eisplatte auf und versank im Wasser. Es war kälter, als er
gedacht hätte, die Kälte raste ihm wie eine blitzende
Kolbenstange das Rückgrat entlang. Er konnte nicht atmen. Er
konnte nicht schreien, sich nicht festhalten. Er wusste kaum noch
seinen Namen oder warum Ertrinken doch ein ziemlich schlimmer Tod
war.
    Er sah das Boot auf das Meer hinausgleiten. Er sah Jaccottet den
Inkubator abstellen, sah Khouri hinter ihn treten und rasch, aber
vorsichtig auf sich zukommen.
    Der Himmel über ihm war bis auf das schemenhafte schwarze
Sturmauge grau wie ein Gehirn. Der schwarze Schlauch hatte die
Wasseroberfläche fast erreicht. Nun knickte er ab und bewegte
sich auf den Eisberg zu.
     
    Scorpio schaltete den Motor ab. Das Boot schaukelte in der
meterhohen Dünung, schwamm aber eigentlich nicht mehr im Wasser,
sondern ruhte auf einem blaugrünen Floß aus organischer
Materie, das sich nach allen Seiten Dutzende von Metern weit
ausbreitete. Am dicksten war es jedoch im Zentrum, genau da, wo das
Boot zum Stillstand gekommen war. Um das Floß herum

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