Offenbarung
lag ein
kohlschwarzes Band aus vergleichsweise sauberem Wasser, dahinter
waren weitere Inseln aus Schiebermaterie zu erkennen. Unter der
Wasseroberfläche schwebten lange Tentakel, geformt wie
Farmwedel, aber so dick wie Rohrleitungen, die immer wieder
hüpfend und schwankend zwischen Wellen und Gischt auftauchten.
Manchmal ringelten sie sich so langsam und zielstrebig dahin wie die
Greifschwänze von Affen.
Scorpio suchte im Boot nach etwas, das er sich vor den Rüssel
binden konnte. Der Geruch bohrte sich förmlich in sein Gehirn.
Es roch nach verfaulenden Küchenabfällen, Kompost, Salmiak,
Kloake und Ozon. Eine Mischung, die von Menschennasen als unangenehm
oder zumindest überwältigend stark empfunden worden
wäre. Für ein Schwein war sie unerträglich.
Er fand im Sanitätskasten eine Bandage und wickelte sie sich
zweimal um den Rüssel. Frei blieben nur die Augen, die brannten
und unaufhörlich tränten. Doch dagegen war momentan nichts
zu machen.
Er stand vorsichtig auf, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen
oder hinauszufallen, und griff nach dem Sack mit der Leiche. Als er
Vasko in einem Anfall von Jähzorn über Bord geworfen hatte,
hatte er sich vollends verausgabt. Der Sack kam ihm nicht nur zwei-,
sondern dreimal schwerer vor, als er eigentlich sein sollte. Er
fasste ihn zu beiden Seiten des Kopfendes und ging langsam
rückwärts. Über die Seitenwand wollte er ihn nicht
werfen, weil er befürchtete, unter dem Gewicht zweier
Erwachsener könnte das Boot kippen. Davor wäre er
geschützt, wenn er die Leiche nach vorne oder nach hinten
brächte.
Er rutschte aus. Der Sack entglitt seinen Hufen. Er fiel nach
hinten und landete auf seinem schwieligen Gesäß. Die
Leiche prallte mit dumpfem Schlag auf die Planken.
Scorpio wischte sich die Tränen aus den Augen, aber dadurch
rieb er die Reizstoffe nur noch tiefer hinein. Die Luft war
gesättigt mit Mikroorganismen, sie schwebten wie ein grüner
Schleier über dem Meer.
Er stand auf und warf einen zerstreuten Blick auf den schwarzen
Schlauch, der vom Himmel herabkam. Wieder packte er den Sack und
wollte ihn zum Heck wuchten. Um das Boot herum verdichteten sich die
organischen Formationen zu einer nicht enden wollenden Prozession von
verwirrenden Bildern. Flaschengrüne Formen entstanden und
verschwanden wieder wie unter der Schere eines geistesgestörten
Landschaftsgärtners. Wenn er direkt hinsah, konnte er nichts
erkennen, aber aus dem Augenwinkel entdeckte er Teile fremder
Anatomien: einen ganzen Zoo aus willkürlich
zusammengefügten Gliedmaßen, Gesichtern und Körpern.
Er schaute in weit aufgerissene Münder. Ganze Trauben von Augen
musterten ihn mit geistlosem Blick. Flügel spreizten sich wie
Fächer. Hörner und Klauen brachen aus dem Grün hervor
und verharrten kurz, bevor sie sich in Formlosigkeit
zurückzogen. Ein warmer, feuchter Wind und ein hektisches
Rülpsen und Knirschen begleiteten die Veränderungen in der
physischen Struktur der Schieberbiomasse.
Scorpio drehte sich so, dass der Sack zwischen ihm und dem Heck
lag. Dann beugte er sich darüber, fasste den Leichnam an den
Schultern und hievte ihn auf das Heckblech. Sooft er auch blinzelte,
sein Blick blieb verschwommen. Die grüne Materie tobte
unvermindert weiter.
»Es tut mir so Leid«, sagte er.
Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Scorpio hatte sich in
Gedanken oft mit Clavains Beisetzung beschäftigt. Falls er sie
selbst noch erlebte, hatte er eine erhebende Zeremonie abhalten
wollen, eine Totenfeier bei Feuerschein, mit tausenden von
Trauergästen. Er war immer davon ausgegangen, dass Clavain
friedlich im Schoß der Kolonie sterben würde, liebevoll
betreut von seinen Anhängern. Oder aber, dass er noch eine
letzte Heldentat vollbrächte und das Schicksal, das ihn
hundertmal verschont hatte, ihn nun doch ereilte. Eine Hand auf eine
kleine, scheinbar harmlose Brustwunde gedrückt, das Gesicht grau
wie der Winterhimmel, würde er mit letzter Kraft all jenen, die
nun allein zurückblieben, noch eine aufmunternde Botschaft
zuflüstern. In seiner Fantasie hatte er, Scorpio, die
Abschiedsworte an die anderen weitergegeben.
Der würdige Abschluss eines langen Lebens. Ein Trauerritual,
das alle berührte und von dem noch in Generationen gesprochen
werden würde.
Es sollte nicht sein.
Scorpio wollte nicht mehr daran denken, was sich in dem Sack
befand oder was damit geschehen war. Er wollte Clavains langsames,
qualvolles Sterben ebenso wie die Rolle, die er dabei gespielt
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