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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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hatte,
aus seiner Erinnerung löschen. Es wäre schlimm genug
gewesen, das Geschehen im Eisberg als Zuschauer zu verfolgen. Selbst
mitgewirkt zu haben, hieß auch, dass ein wichtiger Teil von ihm
selbst mitgestorben war.
    »Ich werde sie nicht im Stich lassen«, sagte er.
»Während du auf deiner Insel warst, versuchte ich immer so
zu handeln, wie du es getan hättest. Was nicht heißt, ich
hätte mich jemals mit dir vergleichen wollen. Ich war dir
niemals ebenbürtig. Ich bin kein Planer, ich sehe nicht
über meine Rüsselspitze hinaus. Ich sage immer, ich bin
eher ein praktischer Typ, jemand, der selbst Hand anlegt.«
    Seine Augen brannten. Die bittere Ironie in den letzten Worten tat
weh.
    »Und so war es wohl bis zuletzt. Es tut mir Leid, Nevil.
Dieses Ende hast du nicht verdient. Du warst ein tapferer Mann und
hast immer getan, was richtig war, ohne Rücksicht auf die
Kosten.«
    Scorpio hielt inne und holte tief Luft. Er hatte das Gefühl,
sich lächerlich zu machen, wenn er so mit dem Sack sprach, aber
er ließ es nicht aufkommen. Er war noch nie ein Redner gewesen.
Wären die Rollen vertauscht gewesen, Clavain hätte eine
bessere Figur abgegeben. Doch nun stand er hier und Clavain war der
Tote. Also musste er sich durchmogeln, so gut es ging, es wäre
nicht das erste Mal in seinem Leben.
    Clavain würde ihm verzeihen.
    »Ich lasse dich jetzt gehen«, sagte Scorpio.
»Hoffentlich so, wie du es wolltest, Kumpel. Ich wünsche
dir, dass du findest, wonach du so lange gesucht hast.«
    Scorpio versetzte dem Sack einen letzten Stoß. Er kippte
über die Seite und versank in dem grünen Brei. Sofort
geriet die Schiebermasse in Aufruhr. Die seltsamen Formen zogen
schneller vorbei, die Aktivität strebte einem Höhepunkt
zu.
    Der schwarze Schlauch am Himmel war fast rechtwinklig abgeknickt
und tastete nach dem Eisberg. Das vordere Ende war nicht mehr stumpf:
Es hatte sich geöffnet und in viele schwarze Finger gespalten,
die immer länger wurden, sich schlangengleich durch die Luft
ringelten und sich weiterverzweigten.
    Er konnte nichts tun. Er warf einen letzten Blick auf die
Schiebermasse und glaubte für einen Moment, im Sturm der Bilder
zwei menschliche Gesichter zu entdecken. Sie waren einander
auffallend ähnlich, doch das eine hatte eine Reife, die dem
anderen abging, es wirkte gelassen, müde und schicksalsergeben,
so als hätte es für ein einziges Menschleben zu viel
gesehen und zu viel gedacht. Die beiden starrten ihn aus maskenhaft
leeren Augen an, bevor sie sich wieder mit dem Gewimmel der Formen
vermischten.
    Das Floß löste sich auf. Der Zug der Formen brach ab
und sank ins Meer zurück. Sogar der stechende Geruch ließ
nach, und der grüne Schleier wurde dünner. Das hieß
wohl, dass er seine Pflicht getan hatte. Doch über dem Meer
schob das schwarze Ding seine vielfach verzweigten Extremitäten
immer näher an den Eisberg heran.
    Er konnte die Hände nicht in den Schoß legen.
     
    Scorpio wendete und fuhr zum Eisberg zurück. Das zweite Boot
schwamm bereits: Vasko, Khouri und die zwei Sicherheitsleute
saßen darin. Sie hatten den Inkubator bei sich und duckten
sich, um nicht vom aufspritzenden Gischt durchnässt zu werden.
Das Boot lag tief im Wasser. Die Schieber hatten innegehalten, als
der Ozean Clavain aufnahm, doch nun hatten sie ihre Aktivität
verdoppelt. Scorpio war sicher, dass das mit dem Ding zu tun hatte,
das vom Himmel herabkam. Die Schieber mochten es nicht: Sie waren so
aufgeregt wie eine Kolonie von Kleintieren, die eine Schlange
witterten.
    Scorpio konnte sie verstehen: Er hatte so etwas noch nie erlebt.
Das war weder ein Tornado noch eine Gischtfontäne. Das
schwankende, vielarmige Ding hing genau über ihnen, und man sah
überdeutlich, dass es nicht natürlich entstanden war. Das
ganze Gebilde – von dem dicken Stamm, der durch die Wolkendecke
stieß, bis zu den feinsten Extremitäten – setzte sich
aus den schwarzen Würfeln zusammen, die sie auch in Skades
Schiff gesehen hatten. Es war eine Unterdrückermaschine, eine
Wolfsmaschine – der Name spielte keine Rolle. Niemand konnte
schätzen, wie viel mehr sich noch hinter der dicken
Wolkenschicht verbarg. Vielleicht zog sich der Stamm durch Ararats
gesamte Atmosphäre.
    Der Anblick wühlte sein Innerstes auf. Das war einfach wider die Natur.
    Er steuerte auf das andere Boot zu. Seit er Clavains letzten
Wunsch erfüllt hatte, konnte er wieder klar denken.
Wahrscheinlich war es falsch gewesen, die anderen mit nur einem
einzigen

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