Offenbarung
Chance hätte, die Zähne
zu zeigen. Was übrig bleibe – die Schwerkraft, wie man sie
im Alltagsleben erfahren könne –, sei nur ein kleiner Rest
einer wesentlich stärkeren Kraft. Die Gravitationskraft
entweiche zum größten Teil quasi seitwärts, in
angrenzende Branen oder Dimensionen. Die Teilchen, aus denen das
Universum hauptsächlich bestehe, seien an eine bestimmte
Bran-Welt geklebt, eine Scheibe der Branen-Schichten, die in der
Theorie als ›Bulk‹ bezeichnet wurde. Deshalb bekomme die
gewöhnliche Materie des Universums immer nur die eine Bran-Welt
zu sehen, in der sie existierte: Sie könne sich nicht durch den
Bulk bewegen. Aber die Gravitonen, die Austauschteilchen der
Gravitationskraft, seien solchen Zwängen nicht unterworfen. Sie
könnten sich frei zwischen den Branen hin und her bewegen und
ungestraft durch den Bulk wandern. Die beste Analogie, die Quaiche
hatte finden können, waren die gedruckten Worte auf den Seiten
eines Buches. Sie waren für alle Ewigkeit an eine bestimmte
Seite gefesselt und wussten nichts von den Worten auf der
nächsten Seite, die nur den Bruchteil eines Millimeters entfernt
waren.
Und nun stelle man sich einen Bücherwurm vor, der sich im
rechten Winkel zum Text durch die Seiten fraß: die
Gravitation.
Was hatte das mit den Schatten zu tun? Hier musste Quaiche sich
das Bild selbst ergänzen. Was die Schatten andeuteten – der
Kern ihrer Ketzerei –, lief darauf hinaus, sie seien Boten oder
Kommunikationsformen aus einer benachbarten Branen-Welt. Vielleicht
war diese Bran-Welt von unserer eigenen Welt völlig getrennt,
sodass sich die beiden nur durch den Bulk verständigen konnten.
Aber es gab noch eine zweite Erklärung: Die beiden scheinbar
getrennten Bran-Universen konnten auch die beiden Enden einer
einzigen Bran sein, die wie eine Haarnadel gekrümmt war. In
diesem Fall – und die Schatten hatten sich dazu nicht
geäußert – wären sie nicht Boten aus einer
anderen Realität, sondern nur aus einer entlegenen, aber
räumlich und zeitlich unvorstellbar weit entfernten Ecke des
bekannten Universums. Licht und Energie aus ihrem Raumabschnitt
könnten sich nur entlang der Bran fortbewegen, den winzigen
Abstand zwischen den gefalteten Oberflächen aber nicht
durchqueren. Die Schwerkraft dagegen schlüpfte mühelos quer
durch den Bulk und trug ihre Botschaft von einer Bran zur anderen.
Sterne, Galaxien und Galaxiengruppen in der Schatten-Bran warfen
einen Gravitationsschatten auf unser Universum und beeinflussten die
Bewegungen unserer Sterne und Galaxien. Ebenso sickerte die
Schwerkraft, die von der Materie im hiesigen Teil der Bran erzeugt
wurde, durch den Bulk in das Reich der Schatten.
Doch die Schatten hatten sich zu helfen gewusst. Sie hatten
herausgefunden, wie man die Gravitation als Signalmedium verwenden
und damit Botschaften durch den Bulk schicken konnte.
Dafür hätte es tausend verschiedene Verfahren gegeben.
Die Einzelheiten spielten keine Rolle. Sie konnten die Orbits zweier
entarteter Sterne so manipulieren, dass eine Serie von
Gravitationswellen entstand, oder sie konnten lernen, nach Bedarf
schwarze Löcher im Kleinformat zu produzieren. Wichtig war nur,
dass es überhaupt möglich war. Und – ebenso wichtig
– dass jemand auf dieser Seite des Bulks fähig war, diese
Signale aufzufangen.
Zum Beispiel jemand wie die Flitzer.
Quaiche lachte leise. Die Ketzerei hatte eine perverse Logik. Aber
was hatte er denn erwartet? Wo die Hand Gottes am Werk war, war die
Hand des Teufels nicht weit. Sie störte die Pläne des
Schöpfers und gab jedem Wunder den Anstrich des
Alltäglichen.
»Quaiche?«, fragte der Panzer. »Bist du noch
da?«
»Ich bin noch da«, sagte er. »Aber ich höre
nicht auf das, was ihr sagt. Ich glaube euch nicht.«
»Wenn du uns nicht glaubst, dann wird es jemand anderer
tun.«
Er deutete auf den Ehernen Panzer. Seine Hand mit den knochigen
Fingern erschien losgelöst wie ein Trugbild am Rand seines
Blickfelds. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr andere mit euren
Lügen vergiftet.«
»Es sei denn, sie hätten etwas, das du dringend haben
möchtest«, sagte der Eherne Panzer. »Dann würdest
du es dir natürlich überlegen.«
Seine Hand zitterte. Plötzlich war ihm kalt. Er befand sich
im Angesicht des Bösen. Und es wusste mehr über seine
Pläne, als ihm zustand.
Er drückte den Knopf für das Interkom.
»Grelier«, fauchte er. »Grelier, kommen Sie sofort zu
mir! Ich brauche frisches
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