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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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sprechen.«
    Sie spürte, dass er in der Nähe war. Sie wusste, dass er
sie beobachtete, jede Geste registrierte. Als eine Wand in Bewegung
geriet und ein Halbrelief ausbildete – eine Gestalt im Raumanzug
–, beherrschte sie sich und zuckte nicht zusammen. Es war nicht
ganz, was sie erwartet hatte, aber es war immerhin eine
Manifestation.
    »Danke«, sagte sie. »Wie schön, Sie
wiederzusehen.«
    Die Gestalt war nur andeutungsweise zu erkennen. Das Bild
flimmerte, Veränderungswellen bewegten sich mit hoher
Geschwindigkeit über die Wand hin, kräuselten sie und
ließen sie flattern wie eine Fahne in einem schweren Sturm.
Gelegentlich zerfiel das Bild und verschmolz mit dem körnigen
Hintergrund, als würde es von Marsstaubwolken verhüllt, die
der Wind schräg über das Blickfeld wehte.
    Die Gestalt hob einen Arm und berührte mit einer
behandschuhten Hand das schmale Visier ihres Raumhelms.
    Auch Antoinette hob grüßend die Hand, aber die Gestalt
in der Wand wiederholte lediglich ihre eigene Geste mit mehr
Nachdruck.
    Jetzt fiel ihr die Brille wieder ein, die ihr der Captain beim
letzten Treffen gegeben hatte. Sie holte sie aus der Tasche und
setzte sie auf. Wieder bekam sie ein künstlich erzeugtes Bild,
aber diesmal wurde – wenigstens vorerst – nichts aus ihrem
Blickfeld gelöscht. Das beruhigte sie. Es hatte ihr nicht
gefallen, dass große und womöglich gefährliche
Elemente in ihrer Nähe ihrer Wahrnehmung entzogen wurden. Sie
fand es schockierend, wie Menschen es jahrhundertelang als vollkommen
normal betrachtet hatten, dass ihre Umgebung manipuliert wurde, dass
solche Wahrnehmungsfilter ebenso selbstverständlich gewesen
waren wie Sonnenbrillen oder Ohrenschützer. Man hatte sich die
Maschinen zur Steuerung der Filter sogar in den Schädel
einsetzen lassen, damit die Täuschung noch besser kaschiert
werden konnte. Antoinette hielt die Demarchisten – und
übrigens auch die Synthetiker – für sehr absonderlich.
Sie bedauerte vieles, aber dass sie für solche
realitätsverändernden Spielchen zu spät geboren war,
tat ihr nicht Leid. Sie wollte sicher sein, dass ein Gegenstand, nach
dem sie gerade griff, auch wirklich da war.
    Aber die Brille war ein notwendiges Übel. Dies war das Reich
des Captains, hier bestimmte er die Regeln.
    Das Halbrelief trat aus der Wand und kam einen Schritt auf sie zu.
Jetzt verfestigte es sich, Einzelheiten wurden erkennbar, so als
wäre eine reale Person aus einem örtlich begrenzten
Sandsturm getreten.
    Nun zuckte sie doch zusammen, denn die Illusion war beeindruckend.
Sie wich sogar einen Schritt zurück.
    Die Manifestation war anders als beim letzten Mal. Der Raumhelm
war nicht ganz so antik, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und die
Symbole waren ihr unbekannt. Der Anzug wirkte zwar immer noch
altmodisch, aber nicht so archaisch wie der erste, in dem er sich ihr
gezeigt hatte. Der Chestpack war weniger plump, und der Stoff lag
enger am Körper an. Antoinette war kein Fachmann, aber sie hielt
dieses Outfit für etwa fünfzig Jahre jünger.
    Was mochte das zu bedeuten haben?
    Sie wollte gerade noch einen Schritt zurücktreten, als der
Captain innehielt und, wohl zu ihrer Beruhigung, wieder die
behandschuhte Hand hob. Dann betätigte er einen Mechanismus, sie
hörte das Zischen des Druckausgleichs, und sein Visier glitt
auf.
    Sie erkannte das Gesicht unter dem Helm sofort wieder, aber es war
älter geworden. Es hatte Falten, die zuvor nicht da gewesen
waren, und die Bartstoppeln waren von Grau durchzogen. Die Augen
waren von Runzeln umgeben und lagen tiefer in den Höhlen. Auch
der Mund hatte sich verändert, die Mundwinkel zeigten jetzt nach
unten.
    Die Stimme klang tiefer und brüchiger. »Du gibst nicht
so leicht auf, wie?«
    »In der Regel nicht. Erinnern Sie sich noch an unseren
letzten Plausch, John?«
    »Einigermaßen.« Er tippte eine Serie von Befehlen
in die Tastatur auf dem Chestpack ein. »Wie lange ist das
her?«
    »Darf ich fragen, wie lange es Ihrer Meinung nach her
ist?«
    »Ja.«
    Sie wartete. Der Captain sah sie ausdruckslos an.
    »Wie lange ist es Ihrer Meinung nach her?«, fragte sie
endlich.
    »Zwei Monate. Mehrere Jahre Schiffszeit. Zwei Tage. Drei
Minuten. Eins Komma achtzehn Millisekunden. Vierundfünfzig
Jahre.«
    »Zwei Tage kommt ungefähr hin«, sagte sie.
    »Ich will es dir glauben. Du hast vielleicht bemerkt, dass
mein Gedächtnis nicht mehr so messerscharf funktioniert wie
früher.«
    »Aber Sie wissen noch, dass ich schon einmal hier

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