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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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umschlossen war. Das Schiff tauchte nur
hin und wieder aus der silbrigen Masse auf. Größe und
Entfernung wechselten von einem Mal zum anderen, ihr Gehirn hatte
Mühe, sich aus den spärlichen Anhaltspunkten ein Bild zu
machen. Marl wusste, dass der Turm drei Kilometer hoch in den Himmel
ragte, doch manchmal wirkte er nicht größer als ein
mittleres Muschelgebäude oder eine der Kommunikationsantennen,
die rings um die Siedlung aufgestellt waren. Im Geiste sah sie die
Neutrinos ausströmen – in Wirklichkeit kam der Schwall
natürlich aus dem unter Wasser liegenden Teil, wo sich die
Triebwerke befanden – wie einen hellen Schein, ein heiliges
Licht, das ihr buchstäblich durch Mark und Bein ging. Die
Teilchen schwirrten durch ihre Zellmembranen, ohne Schaden
anzurichten, und rasten um Haaresbreite unter Lichtgeschwindigkeit in
den Weltraum. Das hieß, dass die Triebwerke für den
interstellaren Flug warm liefen. Kein Lebewesen konnte diese Wolken
wahrnehmen, dazu waren hoch empfindliche Geräte erforderlich.
Aber stimmte das wirklich? Die Schieber – ein einziges, den
ganzen Planeten umspannendes Wesen – waren nichts anderes als
eine riesige Biomasse. Die Organismen eines einzigen Planeten
übertrafen die Gesamtheit der menschlichen Spezies an Masse um
einen Faktor Hundert. War da die Vorstellung so absurd, dass alle
Schieber gemeinsam von den Neutrinos mehr spürten, als die
Menschen dachten? Vielleicht ahnten auch sie die Unruhe des Captains.
Und vielleicht erfassten sie mit ihrer trägen, grünen,
dumpfen Intelligenz sogar, was dieser Start bedeuten würde.
    Marls Blick blieb an einem Gegenstand hängen, der dicht am
Wasser lag. Sie hüpfte behände von einem Stein zum anderen,
bis sie die Stelle erreichte. Es war ein Metallklumpen,
geschwärzt und verformt wie eine geschmolzene Praline, mit einer
seltsam zerknitterten Oberfläche. Das Ding qualmte, summte und
knisterte, und ein Gelenkarm, der Ähnlichkeit mit einem
Hummerschwanz hatte, zuckte krampfhaft. Es konnte noch nicht lange
hier liegen, wahrscheinlich war es erst innerhalb der letzten Stunde
gelandet. Überall auf Ararat berichteten menschliche Beobachter
von Gegenständen, die vom Himmel fielen. Gerade in der Nähe
der Außenposten gab es so viele davon, dass man nicht mehr an
einen Zufall glauben konnte. Die Abwürfe zielten auf die
Bevölkerungszentren der Menschen. Jemand – oder etwas
– wollte sich bemerkbar machen. Gelegentlich kam eine Scherbe
durch.
    Das schwarze Ding beunruhigte sie. Stammte es von Aliens oder von
Menschen? Von freundlich gesinnten Menschen oder von Synthetikern?
War das überhaupt noch ein Unterschied?
    Marl ging an dem Objekt vorbei, blieb am Wasser stehen und legte
ihre Kleider ab. Gerade als sie ins Meer steigen wollte, sah sie sich
plötzlich selbst mit den Augen des Ozeans. Ihr Blickfeld
schwankte über dem Wasser auf und ab. Sie war ein dünnes,
nacktes Ding, ein bleicher Seestern auf zwei Beinen. Von dem
zerstörten Objekt stieg ein Rauchfaden in den Himmel.
    Marl tauchte ihre Hände in eine mit Wasser gefüllte
Felskuhle. Sie wusch sich das Gesicht und strich sich das Haar
zurück. Das Wasser brannte ihr in den Augen und lockte die
Tränen hervor. Sogar hier im Tümpel wimmelte es von
Schiebern. Pellerins Haut juckte, besonders der Streifen auf der
Stirn, das erste Anzeichen für eine Invasion. Die beiden
Kolonien von Mikroorganismen – die eine im Wasser und die andere
in ihrem Gesicht – hatten einander erkannt und reagierten mit
aufgeregtem Kribbeln.
    Für das Überwachungsgremium war Marl ein Grenzfall. Man
hatte schon weitaus schlimmere Invasionsspuren registriert.
Statistisch gesehen müsste sie noch mindestens ein Dutzend Mal
schwimmen können. Aber es gab immer Ausnahmen. Manchmal holte
das Meer auch Schwimmer, die nur leichte Anzeichen eines Befalls
zeigten. Und ganz selten verschlang es auch Neulinge, die zum
allerersten Mal schwammen.
    Denn entscheidend an den Musterschiebern war, dass sie Aliens
waren. Die Biomasse war zutiefst fremd. Sie erschloss sich keiner
menschlichen Analyse, zeigte keine klare Struktur von Ursache und
Wirkung. Sie war so unberechenbar wie ein Betrunkener. Man konnte
innerhalb bestimmter Parameter schätzen, wie sie sich verhalten
würde, aber dabei kam es immer wieder zu verheerenden
Irrtümern.
    Marl wusste das. Sie hatte sich nie etwas vorgemacht. Jedes
Schwimmen war mit Risiken verbunden.
    Bisher hatte sie Glück gehabt.
    Sie dachte an Shizuko, die in der Psychiatrie saß

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