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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Bruder gefiel
das natürlich ganz und gar nicht.«
    »Und was hat ihm der Vermittler geantwortet?«, fragte
Crozet.
    »Er versicherte, Harbin hätte in dieser Hinsicht nichts
zu befürchten. Gewiss, einige Kirchen arbeiteten mit den
Methoden des… ich kann mich an den Wortlaut nicht mehr genau
erinnern. Es hatte irgendwie mit Blutzoll und Glockentürmen zu
tun. Aber er beteuerte, die quaichistische Kirche gehöre nicht
dazu. Unter den Trupps des Ewigen Weges befänden sich
Arbeiter vieler verschiedener Bekenntnisse, und niemand hätte
jemals in irgendeiner Form Anstalten gemacht, einen von ihnen zum
quaichistischen Glauben zu bekehren.«
    Crozet kniff die Augen zusammen. »Und?«
    »Ich wusste, dass er log.«
    »Du dachtest, dass er log«, verbesserte Crozet
wie ein Lehrer in der Schule.
    »Nein, ich wusste es. Ich wusste es so sicher, als hätte
er ein Schild mit der Aufschrift ›Lügner‹ um den Hals
getragen. Für mich war es so offensichtlich, dass er log, wie
dass er atmete. Darüber gab es nichts zu diskutieren. Es schrie
mir förmlich ins Gesicht.«
    »Aber niemandem sonst«, sagte Linxe.
    »Nicht meinen Eltern und auch Harbin nicht, aber das begriff
ich damals noch nicht. Harbin nickte und bedankte sich bei dem Mann,
und ich hielt das alles für irgendein merkwürdiges
Erwachsenenritual. Mein Bruder hatte eine wichtige Frage gestellt,
und der Mann hatte ihm die einzige Antwort gegeben, die sein Amt
zuließ – eine diplomatische Antwort. Alle Anwesenden
verstanden, dass diese Antwort eine Lüge war. So betrachtet
wäre sie eigentlich gar keine Lüge gewesen… ich
dachte, das wäre allen klar. Wieso hätte der Mann sonst so
deutlich zeigen sollen, dass er die Unwahrheit sagte?«
    »Tat er das denn?«, fragte Crozet.
    »Ich hatte den Eindruck, er wollte mir zeigen, dass er log,
er schien die ganze Zeit verschwörerisch zu grinsen und mir
zuzuzwinkern… wobei er das in Wirklichkeit natürlich nicht
tat, er stand nur immer kurz davor. Aber das sah niemand außer
mir. Ich dachte, Harbin… er müsste es doch gemerkt
haben… aber nein. Er tat auch weiterhin so, als glaubte er jedes
Wort. Er verhandelte bereits wegen eines Platzes in der Karawane
für die Fahrt bis zum Ewigen Weg. Da machte ich eine
Szene. Wenn das ein Spiel sein sollte, warum machten sie dann immer
noch weiter, ohne mich an dem Spaß teilhaben zu
lassen?«
    »Du dachtest, Harbin wäre in Gefahr«, sagte
Linxe.
    »Ich verstand wohl gar nicht so genau, worum es eigentlich
ging. Wie gesagt, ich war erst neun. Ich hatte keine Ahnung von
Religion und Konfessionen und Verträgen. Aber ich hatte den Kern
der Sache erfasst: Harbin hatte dem Mann eine Frage gestellt, die
für ihn von größter Wichtigkeit war und darüber
entscheiden sollte, ob er der Kirche beitrat oder nicht, und der Mann
hatte ihn belogen. Ob ich glaubte, dass ihn das in Lebensgefahr
brachte? Nein, ich begriff damals wahrscheinlich noch gar nicht so
recht, was ›Lebensgefahr‹ eigentlich war. Aber ich wusste,
dass etwas nicht stimmte, und ich wusste, dass ich die Einzige war,
die es bemerkte.«
    »Das Mädchen, das niemals lügt«, sagte
Crozet.
    »Das ist ein Irrtum«, antwortete Rachmika. »Ich
lüge durchaus, inzwischen kann ich es so gut wie jeder andere.
Aber lange Zeit sah ich einfach keinen Sinn darin. Vermutlich
machte mir die Begegnung mit diesem Mann erstmals klar, dass Dinge,
die für mich mein Leben lang unübersehbar gewesen waren,
nicht auch von allen anderen wahrgenommen wurden.«
    Linxe sah sie an. »Nämlich?«
    »Ich sehe, wenn jemand lügt. Immer. Ohne Ausnahme. Und
ich irre mich nie.«
    Crozet lächelte nachsichtig. »Das glaubst du.«
    »Das weiß ich«, widersprach Rachmika.
»Ich habe mich noch nie getäuscht.«
    Linxe faltete die Hände im Schoß. »Und seither
hast du von deinem Bruder nichts mehr gehört?«
    »Nein. Wir haben ihn nicht wieder gesehen, aber er hielt
Wort. Er schrieb uns Briefe, und hin und wieder schickte er auch
etwas Geld. Aber die Briefe klangen unpersönlich und kalt; sie
hätten auch von einem Fremden geschrieben sein können. Er
kehrte nie ins Ödland zurück, und für uns kam ein
Besuch bei ihm natürlich nicht infrage. Es wäre zu
schwierig gewesen. Er hatte immer gesagt, er würde wiederkommen,
das stand sogar in den Briefen… aber die wurden immer seltener,
erst lagen Monate dazwischen, dann ein halbes Jahr… und
schließlich kam vielleicht noch ein Brief in jedem Umlauf. Der
letzte traf vor zwei Jahren ein. Es stand nicht

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