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Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen

Titel: Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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umgedichtet werden muss, um wieder der Wirklichkeit zu entsprechen: »In dem Monat drei-, viermal schadet nicht und ist normal.«

Spießig sein – aber mit Stil!
    Gab es nicht in unserer Jugend ein paar Todsünden, die wir nie, aber auch gar nie begehen wollten? Die als Symbol für jenes spießige Erwachsenenleben unserer Eltern standen, das wir auf keinen Fall leben wollten?
    Geranien auf dem Balkon pflanzen. Samstagabends mit den Nachbarn grillen. Eine deutsche Automarke fahren. In Weiß heiraten. Überhaupt heiraten. Ferien am Wolfgangsee. Nach Verona zur Freilichtaufführung von »Aida«. Eine Lebensversicherung oder einen Bausparvertrag abschließen. Ein Album mit Familienfotos anlegen. Altersgemäße Kleidung tragen. Kindern verbieten, laute Musik zu machen oder zu hören.
    Stattdessen wollten wir Marihuana anpflanzen, die Nächte von Samstag auf Sonntag durchtanzen, französische Autos fahren, die ganze Welt bereisen, Aufführungen von Peter Brook und Ariane Mnouchkine sehen, bloß nicht heiraten, unser Geld verprassen statt es anzulegen, uns nach Möglichkeit vor Familienfesten drücken, uns um altersgemäße Kleidung einen Dreck scheren, unseren Kindern ein Schlagzeug und eine Verstärkeranlage für die Gitarre schenken.
    Wollen wir doch mal ehrlich sein und unsere Todsünden mit unseren guten Vorsätzen vergleichen. Was dabei rauskommt, ist unser persönlicher »Spießigkeitsfaktor«. Bei mir zum Beispiel sieht der Spießer-Test so aus:
Geranien am Balkon: Fehlanzeige – aber nicht, weil sie mir nicht gefielen, sondern weil ich zu faul bin, welche zu pflanzen. Halber Punkt.
    Grillen mit den Nachbarn: Aber gern, warum nicht? Ein Punkt.
    Automarke: Unsere ländliche Wohnlage erfordert zwei Autos; eines ist deutsch, eines italienisch. Halber Punkt.
    Heiraten: Ja, aber nicht in Weiß. Halber Punkt.
    Reisen: Letztes Jahr Ferien in Österreich, aber nicht am Wolfgangsee. Halber Punkt.
    Aida: Noch nicht. Dafür aber auch kaum ein anderes Kulturereignis von Rang, sieht man von einem Konzert der Rolling Stones im letzten Jahr ab. Halber Punkt.
    und
    Lebensversicherung, Bausparvertrag: zwei Punkte.
    Familienalbum: Angefangen, aufgegeben. Halber Punkt.
    Kleidung: Konsequent nicht altersgemäß. Kein Punkt.
    Laute Musik: Kinder besitzen Schlagzeug und Verstärkeranlage. Kein Punkt.
    Ergebnis: Von elf zu erreichenden Spießerpunkten habe ich sechs erreicht. Das heißt, ich bin bereits zu 55 Prozent die bürgerliche Langweilerin, die ich niemals werden wollte. »Wir sind alle Helmut Kohl«, bemerkte unlängst lakonisch ein Freund, der sich als junger Mensch viel auf seine unkonventionelle Lebensführung zugute gehalten hat. Tagsüber schlief er, nachts arbeitete er, dabei entstanden brillante Artikel und Bücher übers Kino. Heute macht er mit seiner Familie Sommerferien an einem bayerischen See, und sein wildester Exzess besteht aus drei Weißbier im Biergarten. Und das Schlimmste, sagt er, sei, dass es ihm gefällt. Dass er nicht mal ein schlechtes Gewissen hat oder das Gefühl, etwas zu verpassen.
    Sind wir also längst alle zu den angepassten Normalos geworden, zu denen unsere Eltern uns erziehen wollten? Wann ist das bloß passiert, dass wir die Freiheit der Bequemlichkeit geopfert haben? Bei der ersten Gehaltszahlung, beim ersten Kind? Unmerklich hat die Aufmüpfigkeit nachgelassen und einer gewissen Erschöpfung Platz gemacht, jener Erschöpfung, die alle jungen Erwachsenen befällt, wenn sie zwischen Existenzkampf und Familiengründung ihren Platz in der Welt suchen. Und wenn sie ihn gefunden haben, wollen sie sich belohnen für die Anstrengung. Mit Ferien am Wolfgangsee. Einer Fahrt zu »Aida«. Einem schicken Anzug oder einem teuren Kleid, das sich nur Leute ab einem gewissen Alter leisten können.
    Aber vielleicht genügt es ja, wenn wir uns unserer Spießigkeit bewusst sind und sie mit Würde zelebrieren. Das hat dann schon wieder Stil!

Gekidnappt!
    Oft ist er der erste Mensch, auf den wir in einer fremden Stadt treffen: der Taxifahrer.
    Ist er freundlich, so neigen wir dazu, die Stadt gleich sympathisch zu finden, ist er muffig, fühlen wir uns weniger willkommen. Wenn wir Glück haben, ist unser Taxifahrer ein Lokalpatriot, dann erfahren wir auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum mehr als aus jedem Reiseführer. Wenn wir Pech haben, ist unser Chauffeur ein politischer Extremist und erklärt uns, warum die Ausländer raus sollen, weshalb die Bush-Politik genau richtig ist oder dass in jedem Moslem ein

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