Ohne ein Wort
Fassade, das offenbar in den sechziger Jahren errichtet worden war. Sehr gepflegt. Eine Veranda mit zwei Holzstühlen. Es war kein Palast, doch fraglos wohnten hier Leute, die man wohlhabend nennen konnte.
Mein Blick fiel auf eine Rampe. Eine flach ansteigende Rollstuhlrampe, die von der Einfahrt auf die Veranda führte. Wir gingen zur Haustür und blieben dort stehen.
»Wie gehen wir jetzt vor?«, fragte Vince.
»Haben Sie eine Idee?«
»Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen«, sagte Vince.
Im Haus brannte Licht; außerdem lief drinnen ein Fernseher, wenn ich mich nicht ganz täuschte. Wir würden also niemanden wecken. Ich hob den Finger zur Klingel, zögerte aber noch einen Augenblick.
»Showtime«, sagte Vince.
Ich klingelte.
VIERZIG
Als nach einer halben Minute immer noch niemand an die Tür gekommen war, warf ich Vince einen fragenden Blick zu. »Versuchen Sie’s noch mal«, sagte er. Er wies auf die Rollstuhlrampe. »Das kann dauern.«
Ich läutete noch einmal. Plötzlich hörten wir, wie sich im Haus etwas regte, und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, wenn auch nur einen etwas größeren Spalt. Ich sah eine Frau in einem Rollstuhl, die sich ein Stück rückwärtsbewegte, um die Tür weiter zu öffnen, und dann abermals ein Stück zurückrollte.
»Ja?«, sagte sie.
»Mrs Sloan?«, fragte ich.
Ich schätzte sie auf Ende sechzig, Anfang siebzig. Sie war dünn, doch alles andere als gebrechlich, wie ihre Haltung bewies. Ihre Finger schlossen sich fest um die Räder des Rollstuhls, während sie den Türrahmen blockierte. Eine Wolldecke lag über ihrem Schoß; sie trug einen braunen Pullover über einer geblümten Bluse. Das silberfarbene Haar war zu einem straffen Dutt gezähmt; jede Strähne saß korrekt an ihrem Platz. Auf ihren markanten Wangenknochen glänzte eine Spur Rouge, und ihre wachsamen braunen Augen wanderten zwischen Vince und mir hin und her. Ihre Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie einst eine sehr attractiveFrau gewesen war, doch das energische Kinn und der verkniffene Mund verliehen ihr nun eine herrische, fast schon aggressive Aura.
Eine Ähnlichkeit mit Cynthia konnte ich nicht feststellen.
»Ja, das bin ich«, sagte sie.
»Entschuldigen Sie die späte Störung«, sagte ich. »Mrs Clayton Sloan?«
»Ja, ich bin Enid Sloan«, sagte sie. »Und Sie haben recht. Es ist sogar ziemlich spät. Was wollen Sie?« Ihr Tonfall ließ deutlich durchblicken, dass sie uns mit Sicherheit keine Gefälligkeiten erweisen würde.
Sie musterte uns mit erhobenem Kopf und gerecktem Kinn, und zwar keineswegs, weil sie zu uns aufsehen musste. Sie gab uns unmissverständlich zu verstehen, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Es verblüffte mich, dass ihr zwei Männer, die spätabends vor ihrer Haustür standen, anscheinend nicht die geringste Angst einflößten. Schließlich saß sie im Rollstuhl und hatte es mit zwei Unbekannten zu tun, die ihr körperlich haushoch überlegen waren.
Ich warf einen Blick in den Raum hinter ihr. Kolonialmöbel von der Stange, dazu reichlich Platz für den Rollstuhl, verblichene Stores und ein paar Vasen mit künstlichen Blumen. Der dicke Teppichboden war einst sicher nicht ganz billig gewesen, mittlerweile aber verschlissen und fleckig. Tief zeichneten sich die Spuren des Rollstuhls ab.
Irgendwo lief ein Fernseher. Plötzlich stieg mir ein angenehmer Duft in die Nase. »Backen Sie gerade?«, fragte ich.
»Einen Karottenkuchen«, gab sie barsch zurück. »Für meinen Sohn. Heute kommt er endlich zurück.«
»Oh«, sagte ich. »Den würden wir gern sprechen. Er heißt doch Jeremy, oder?«
»Was wollen Sie von Jeremy?«
Tja, was wollten wir eigentlich von Jeremy? Was sollten wir ihr für eine Geschichte auftischen?
Während ich noch zögerte, übernahm Vince. »Wo ist Jeremy, Mrs Sloan?«
»Wer sind Sie?«
»Sorry, Ma’am, aber wir stellen hier die Fragen«, gab er zurück. Er schlug einen nachdrücklich autoritären Tonfall an, gab sich aber hörbar Mühe, nicht bedrohlich zu klingen. Ich fragte mich, ob er die alte Frau glauben machen wollte, er sei ein Cop.
»Ich habe Sie etwas gefragt. Wer sind Sie?«
»Könnten wir kurz mit Ihrem Mann sprechen?«, sagte ich.
»Clayton?«, sagte sie. »Er liegt im Krankenhaus.«
Überrascht sah ich sie an. »Oh«, sagte ich. »Das tut mir leid. In dem Krankenhaus, das wir von der Interstate aus gesehen haben?«
»Wenn Sie von Lewiston gekommen sind«, sagte sie. »Da liegt er jetzt schon seit
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