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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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Augenblick kam Grace aus dem Keller, mit braun verschmiertem Mund, die Familienpackung Schokoeis an die Brust gedrückt, als handele es sich um ein Schmusetier.
    Cynthia fiel beinahe die Kinnlade herunter. Sie zog eine Miene, als sei sie auf einen Aprilscherz hereingefallen.
    »Du warst schon weg, als wir die Eiscreme entdeckt haben«, sagte Tess. »Aber die anderen Sachen brauchte ich ja trotzdem. Hey, ich habe Geburtstag. Und jetzt lasst uns feiern.«

ZEHN
    Als ich zu Grace ging, um ihr noch einen Gutenachtkuss zu geben, hatte sie das Licht zwar schon ausgemacht, saß aber am Fenster und spähte durch ihr Teleskop ans mondbeschienene Firmament. Soweit ich es im Dunkeln ausmachen konnte, hatte sie das Teleskop notdürftig mit Klebeband am Stativ befestigt.
    »Kleines«, sagte ich.
    Sie bewegte zwei Finger, ohne ihren Blick vom Teleskop zu lösen. Als sich meine Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, sah ich, dass das Buch über den Kosmos auf ihrem Bett lag.
    »Na, was siehst du?«, fragte ich.
    »Nicht viel«, sagte sie.
    »Schade, oder?«
    »Ach was. Hauptsache, da fliegt nichts rum, was die Erde zerstören könnte.«
    »Da hast du wohl recht.«
    »Ich will nicht, dass dir und Mom was passiert. Wenn ein Asteroid auf unser Haus zurast, kann ich euch rechtzeitig warnen.«
    Ich fuhr ihr übers Haar und ließ die Hand auf ihrer Schulter ruhen.
    »Dad, du drückst gegen mein Auge«, sagte Grace.
    »Oh, sorry«, sagte ich.
    »Ich glaube, Tante Tess ist krank«, sagte sie.
    O nein. Sie hatte gelauscht. Statt in den Keller zu gehen, hatte sie von der Treppe aus gehorcht.
    »Grace, hast du …«
    »Sie hat sich gar nicht richtig gefreut«, sagte Grace. »Ich freue mich viel mehr, wenn ich Geburtstag habe.«
    »Wenn man älter wird, verlieren Geburtstage an Bedeutung«, sagte ich. »Was mal ein Novum war, ist am Ende kalter Kaffee.«
    »Was ist ein Novum?«
    »Nun ja, alles wird irgendwann alltäglich. Wenn etwas ganz neu und aufregend ist, nennt man es ein Novum.«
    »Oh.« Sie richtete das Teleskop ein Stück nach links aus. »Der Mond ist ganz hell heute Nacht. Ich kann die ganzen Krater erkennen.«
    »Jetzt aber ab ins Bett«, sagte ich.
    »Nur noch eine Minute«, protestierte sie. »Gute Nacht, Dad. Vor Asteroiden seid ihr heute sicher.«
    Ich beschloss, fünfe gerade sein zu lassen. Ein Kind aufbleiben zu lassen, weil es die Planeten studieren will, kam mir nicht gerade wie die Art von Vernachlässigung vor, die das Jugendamt auf den Plan ruft. Nachdem ich ihr einen zärtlichen Kuss aufs Ohr gegeben hatte, ließ ich sie allein und ging in das Gästezimmer, in dem wir zu schlafen pflegten, wenn wir bei Tess zu Besuch waren.
    Cynthia, die Grace bereits gute Nacht gesagt hatte, saß im Bett und blätterte geistesabwesend in einer Zeitschrift.
    »Wir müssten morgen ins Einkaufszentrum fahren«, sagte sie. »Grace braucht neue Schuhe.«
    »Wieso? Die alten sehen doch noch ganz okay aus.«
    »Stimmt, aber sie sind ihr zu klein geworden. Kommst du mit?«
    »Klar«, sagte ich. »Morgen früh mähe ich erst mal den Rasen, aber wir könnten mittags hinfahren und dort auch gleich etwas essen.«
    »Was für ein nettes Geburtstagsfest«, sagte sie. »Wir besuchen Tess viel zu selten.«
    »Dann lass uns doch einmal pro Woche vorbeischauen«, sagte ich.
    »Meinst du wirklich?« Sie lächelte.
    »Na, sicher. Wir können es uns hier gemütlich machen oder sie ins Knickerbocker’s ausführen. Oder in das Fischrestaurant an der Bucht. Das gefällt ihr bestimmt.«
    »Das glaube ich auch. Sie war heute ein bisschen geistesabwesend, fandest du nicht? Außerdem wird die Gute langsam vergesslich. Da schickt sie mich extra los, obwohl genug Eiscreme im Haus ist.«
    Ich zog mein Hemd aus und hängte meine Hose über die Stuhllehne. »Hmm«, sagte ich. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.«
    Cynthia gegenüber hatte Tess ihre Gesundheitsprobleme nicht erwähnt; es lag auf der Hand, dass sie Cynthia nicht das Geburtstagsfest verderben wollte. Und obwohl es ganz und gar Tess’ Angelegenheit war, wann sie Cynthia die schlechte Neuigkeit mitteilen wollte, fühlte ich mich nicht ganz wohl dabei, bereits Bescheid zu wissen, während meine Frau ahnungslos blieb.
    Eine noch größere Last aber war das Wissen um das Geld, das Tess jahrelang anonym erhalten hatte. Wie kamich dazu, das für mich zu behalten? Cynthia hatte ein Recht, davon zu erfahren. Sicher, Tess hatte ihr nichts erzählt, weil sie der Meinung war, dass es mit Cynthias

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