Ohne ein Wort
Bruder entfernt ähnlich sieht. Wenn du jetzt zu ihm rübergehst und so tust, als wäre er Todd, holst du dir höchstens eine gehörige Abfuhr.«
»Er geht«, sagte Cynthia. Ich hörte einen Anflug von Panik aus ihrer Stimme heraus.
Ich fuhr herum. Der Mann war aufgestanden, wischte sich den Mund mit einer Papierserviette, zerknüllte sie und ließ sie auf den Pappteller fallen. Er ließ das Tablett stehen und marschierte in Richtung der Toiletten davon.
»Wer ist Inspektor Kluso?«, fragte Grace.
»Du kannst ihm nicht aufs Klo folgen«, warnte ich Cynthia.
Völlig erstarrt saß sie da und sah dem Mann hinterher, der in dem zu den Waschräumen führenden Gang verschwand. Nun ja, dort würde er auch wieder herauskommen – weshalb wir in Ruhe abwarten konnten.
Ich ahnte, dass mir nur noch ein paar Sekunden blieben, um Cynthia ihr Vorhaben auszureden, das uns alle in eine ausgesprochen peinliche Situation bringen konnte. »Erinnerst du dich noch daran, was du mir bei unserem allerersten Treffen erzählt hast? Dass du manchmal wildfremde Leute für deine Eltern oder deinen Bruder hältst?«
»Er kommt bestimmt gleich wieder raus. Außer die Toilette hat noch einen anderen Ausgang.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ich verstehe dich ja. Deine Reaktion ist völlig normal. Dein halbes Leben hältst du nun Ausschau nach deinen Eltern und deinem Bruder.« Ich hielt kurz inne. »Vor ein paar Jahren hatte Larry King in seiner Show den Mann zu Gast, dessen Sohn von O.J. Simpson umgebracht worden war. Er erzählte, er hätte auf der Straße einen Wagen gesehen, das gleiche Modell, das sein Sohn fuhr. Und dann ist er dem Wagen gefolgt, um sich den Fahrer anzusehen – um ganz sicherzugehen, dass nicht sein Sohn am Steuer saß, obwohl er genau wusste, dass er tot war.«
»Wir wissen aber nicht, ob Todd tot ist«, sagte Cynthia.
»Schon klar. Das wollte ich damit auch nicht andeuten. Ich wollte lediglich sagen, dass …«
»Da ist er. Er geht zur Rolltreppe.« Abrupt erhob sie sich und marschierte los.
»Verdammte Scheiße!«, sagte ich.
»Daddy!«, sagte Grace entsetzt.
Ich wandte mich zu ihr. »Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck, verstanden?« Sie nickte; der Eislöffel blieb auf halbem Wege zum Mund stehen. Ich wandte mich zu der älteren Dame am Nebentisch. »Entschuldigen Sie, könnten Sie einen Moment auf meine Tochter aufpassen?«
Dann stand ich auf und lief hinter Cynthia her. Von weitem sah ich den Mann, der die Rolltreppe betreten hatte und abwärtsfuhr. Die Restaurantebene war so überfüllt, dass Cynthia im Gewimmel nur langsam vorankam. Als sie die Rolltreppe betrat, befand sich etwa ein halbes Dutzend Leute zwischen ihr und dem Mann, den sie für ihren Bruder hielt, und noch einmal ein gutes halbes Dutzend Menschen zwischen ihr und mir.
Als der Mann die Rolltreppe verließ und zügig Richtung Ausgang marschierte, versuchte Cynthia sich an einem vor ihr stehenden Paar vorbeizudrängeln; es gelang ihr nicht, weil die beiden einen Essstuhl für Kinder dabeihatten, der ihr den Weg versperrte.
Als sie endlich den Fuß der Rolltreppe erreicht hatte, rannte sie hinter dem Mann her, der bereits am Ausgang angelangt war.
»Todd!«, rief sie.
Der Mann reagierte nicht. Er öffnete die erste Glastür, die hinter ihm zuschwang, während er die zweite öffnete, und ging weiter zum Parkplatz. Ich hatte Cynthia fast eingeholt, als sie die erste Tür aufriss.
»Cynthia!«, sagte ich.
Aber sie schenkte mir nicht mehr Beachtung als der Mann ihr. Sie öffnete die zweite Tür und rief erneut »Todd!«, ohne dass er reagierte. Dann hatte sie ihn eingeholt und ergriff ihn am Ellbogen.
Er wandte sich um und musterte sie mit irritiertem Blick. Sie war völlig außer Atem und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Pardon?«, fragte er.
»Entschuldigung«, sagte Cynthia und hielt einen Moment inne, um Luft zu holen. »Aber ich glaube, ich kenne Sie.«
Ich schloss zu ihr auf. Der Mann sah mich an, als wollte er fragen, was zum Teufel hier eigentlich vor sich ging.
»Da täuschen Sie sich«, sagte er zögernd.
»Du bist Todd«, sagte Cynthia.
»Todd?« Er schüttelte den Kopf. »Sorry, Lady, aber ich weiß wirklich nicht …«
»Aber ich sehe es doch«, sagte Cynthia. »Du siehst genauso aus wie Vater. Du hast dieselben Augen.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Meine Frau hält Sie für ihren Bruder. Sie hat ihn seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Cynthia funkelte mich
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