Ohne ein Wort
an. »Ich bin nicht verrückt«, sagte sie. Sie wandte sich wieder zu dem Mann. »Na gut. Wer sind Sie dann?«
»Lady, ich weiß nicht, was Sie für ein Problem haben, aber behelligen Sie mich nicht damit, okay?«
Ich stellte mich zwischen die beiden und richtete abermals das Wort an den Mann, wobei ich versuchte, sobesonnen wie nur eben möglich zu sprechen. »Glauben Sie mir, ich weiß, es ist ein bisschen viel verlangt, aber … Wenn Sie uns sagen könnten, wer Sie sind, würde das meine Frau vielleicht ein wenig beruhigen.«
»Das ist doch gaga«, sagte er. »Warum sollte ich das tun?«
»Du bist es«, sagte Cynthia. »Aber aus irgendeinem Grund willst du es nicht zugeben.«
Ich nahm Cynthia beiseite und sagte: »Lass mich mit ihm reden.« Dann trat ich wieder zu dem Mann. »Die Familie meiner Frau ist vor fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwunden. Und Sie sehen ihrem Bruder ähnlich, das haben Sie ja selbst gehört. Sie haben mein volles Verständnis, wenn Sie ablehnen, aber wenn Sie uns Ihren Ausweis oder Ihren Führerschein zeigen könnten, würden Sie meiner Frau wirklich helfen.«
Er musterte mich einen Augenblick. »Ihre Frau braucht professionelle Hilfe, das ist Ihnen hoffentlich klar«, sagte er.
Ich erwiderte nichts.
Schließlich gab er einen Seufzer von sich und zog kopfschüttelnd sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche, klappte es auf und förderte eine Plastikkarte zutage. »Hier«, sagte er.
Es war sein Führerschein, ausgestellt im Staat New York auf den Namen Jeremy Sloan. Als Adresse war Youngstown, New York, angegeben. Direkt daneben prangte ein Lichtbild von ihm.
»Darf ich?«, fragte ich. Er nickte. Ich ging zu Cynthia und reichte ihr den Führerschein. »Sieh dir das an.«
Zögernd nahm sie den Führerschein zwischenDaumen und Zeigefinger und betrachtete ihn mit tränenverschleiertem Blick. Sie sah das Foto, dann den Mann an. Dann reichte sie ihm den Führerschein zurück.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid.«
Der Mann nahm seinen Führerschein, steckte ihn ins Portemonnaie zurück, schüttelte abermals genervt den Kopf, murmelte irgendetwas, von dem ich nur die Worte »völlig irre« verstand, und verschwand Richtung Parkplatz.
»Komm, Cyn«, sagte ich. »Lass uns Grace holen.«
»Grace?«, entgegnete sie. »Du hast sie allein gelassen?«
»Alles okay«, sagte ich. »Die Frau vom Nebentisch passt auf sie auf.«
Cynthia machte abrupt kehrt, hetzte zurück in das Einkaufszentrum und lief die Rolltreppe hinauf. Ich folgte ihr auf dem Fuß, und wir bahnten uns unseren Weg durch das Labyrinth des voll besetzten Restaurantbereichs, bis wir endlich unseren Tisch erreichten. Drei Tabletts standen dort, unsere Styroporschüsseln mit dem Rest der Suppe, die halb gegessenen Sandwiches und die Überbleibsel von Grace’ McDonald’s-Menü.
Nur Grace war nicht da.
Ebensowenig die ältere Dame.
»Verdammt noch mal, was …«
»O Gott«, sagte Cynthia. »Wie konntest du sie nur allein lassen ?«
Am liebsten hätte ich ihr an den Kopf geworfen, dass sie die ganze Situation erst heraufbeschworen hatte, indem sie wie ein aufgescheuchtes Huhn losgehetzt war. »Sie muss hier irgendwo sein«, sagte ich stattdessen.
»Haben Sie unsere Kleine gesehen?«, fragte Cynthia die Leute an den anderen Tischen, aber wir ernteten nichts als Kopfschütteln und ratloses Schulterzucken. »Ein achtjähriges Mädchen? Sie hat hier gesessen.«
Ich fühlte mich so hilflos wie noch nie. War es möglich, dass die alte Frau Grace ein weiteres Eis versprochen und sie so weggelockt hatte? Aber dafür war Grace eigentlich zu clever. Sie wusste genau, dass man bei fremden Leuten …
Ich ließ meinen Blick durch den Restaurantbereich schweifen. Cynthia stand mitten zwischen den Tischen und begann laut zu rufen: »Grace! Grace!«
Im selben Moment hörte ich eine Stimme hinter mir. »Hey, Dad.«
Ich fuhr herum.
»Wieso schreit Mom denn so?«, fragte Grace.
»Herrgott noch mal, wo warst du denn?«, fragte ich. »Und wo ist die alte Dame abgeblieben?«
»Ihr Handy hat geklingelt und dann ist sie gegangen«, sagte Grace seelenruhig. »Außerdem musste ich aufs Klo, das habe ich doch gesagt. Deswegen müsst ihr nicht gleich so ausflippen.«
Cynthia kam zu uns gelaufen und drückte Grace so fest an sich, dass sie fast erstickte. Ja, ich hatte mich mit Gewissensbissen herumgeschlagen, weil ich Cynthia nicht sofort von den Umschlägen mit dem Geld erzählt hatte – aber jetzt hatte ich
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