Ohne ein Wort
Dr. Kinzler. Soll ich lieber wöchentlich gehen? Oder mir irgendwelche Psychopharmaka verschreiben lassen, die mich ruhigstellen und vielleicht den ganzen Wahnsinn vergessen lassen? Würde dich das zufrieden stellen?«
Ich knallte den Rotstift auf den Tisch. »Jetzt mach aber mal halblang, Cyn.«
»Am liebsten wäre es dir doch, wenn wir uns trennen, stimmt’s?«
»Das ist doch lächerlich.«
»Du erträgst es einfach nicht mehr, und soll ich dir mal was sagen? Ich auch nicht. Mir steht das alles bis oben hin. Glaubst du etwa, mir gefällt es, mich an eineHellseherin wenden zu müssen? Meinst du, ich wüsste nicht, wie armselig das aussieht, dieser Griff nach dem letzten Strohhalm? Aber was würdest du an meiner Stelle tun? Was, wenn es nicht um meine Eltern und meinen Bruder ginge, sondern um Grace?«
Ich sah sie an. »So was darfst du nicht mal denken.«
»Was, wenn sie eines Tages spurlos verschwinden würde? Und verschwunden bliebe, für Monate, für Jahre? Ohne dass es auch nur den geringsten Anhaltspunkt gäbe?«
»Hör auf damit«, sagte ich.
»Und eines Tages erhältst du den Anruf einer Frau, die behauptet, sie hätte eine Vision gehabt und wüsste, wo Grace sei. Willst du mir erzählen, du würdest dann einfach auflegen?«
Ich presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick.
»Ja, würdest du das tun? Nur um nicht wie ein Idiot dazustehen? Weil es dir so überaus peinlich wäre? Aber was, wenn diese Frau wirklich etwas wüsste, und stünde die Chance nur eins zu einer Million? Was, wenn sie nicht mal hellseherisch begabt wäre, sondern tatsächlich etwas gesehen, es aber versehentlich als Vision interpretiert hätte? Und wenn sie damit eine entscheidende Information liefern würde?«
Ich stützte den Kopf in die Hände, und mein Blick blieb an folgendem Absatz hängen: »Mr Whitmans berühmtestes Werk war Leaves of Grass . Manche Leute glauben, in dem Buch ginge es um Marihuana. Das stimmt zwar nicht, aber andererseits mag man kaum glauben, dass jemand, der Sachen wie I Sing The BodyElectric geschrieben hat, nicht wenigstens ab und zu mal gekifft hat.«
Als mir Lauren Wells am nächsten Tag über den Weg lief, trug sie nicht den gewohnten Trainingsanzug, sondern ein enges schwarzes T-Shirt und Designerjeans. Cynthia hätte sofort gewusst, welche Marke. Wenn wir Fernsehen guckten, wusste sie auch immer sofort, welche Moderatorin was anhatte. »Oh«, sagte sie dann etwa, »die trägt eine Sevens.«
Ich wusste nicht, ob Lauren eine Sevens trug, aber die Jeans stand ihr ausnehmend gut; die älteren Schüler glotzten ihr allesamt auf den Hintern, als sie mir auf dem Flur entgegenkam.
»Na, geht’s besser heute?«, fragte sie.
Wieso das? Hatte ich etwa bei unserer letzten Begegnung durchblicken lassen, irgendwie nicht auf der Höhe zu sein? Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern.
»Alles bestens«, erwiderte ich. »Und wie geht’s dir?«
»So weit alles okay«, sagte sie. »Obwohl ich mich gestern um ein Haar krankgemeldet hätte. Eine ehemalige Klassenkameradin hatte vor ein paar Tagen in Hartford einen tödlichen Autounfall. Ich hab’s von einer anderen Freundin per E-Mail erfahren. Die Nachricht hat mich unendlich deprimiert.«
»War es eine enge Freundin?«, fragte ich.
Ein halbes Schulterzucken. »Wir waren in einer Jahrgangsstufe. Ehrlich gesagt musste ich kurz überlegen, als ich ihren Namen gehört habe. Wir waren nicht in einerClique oder so. Sie saß bloß in ein paar Kursen hinter mir. Aber trotzdem ist es ein Schock, wenn jemand stirbt, den man kannte. Man wird grüblerisch, macht sich alle möglichen Gedanken über sein eigenes Leben.«
»Alle möglichen Gedanken«, wiederholte ich, unschlüssig, ob ich tatsächlich Mitleid haben sollte. »Tja, schrecklich.« Natürlich bedauerte ich, dass ein Mensch zu Tode gekommen war, aber Lauren verschwendete meine Zeit mit ihrem Lamento über eine Frau, die sie offenbar selbst nicht richtig gekannt hatte.
Kids strömten links und rechts an uns vorbei, während wir weiter den Gang blockierten.
»Ach ja«, sagte Lauren. »Wie ist sie eigentlich wirklich?«
»Wer?«
»Paula Malloy«, sagte Lauren. »Ist sie genauso nett, wie sie im Fernsehen wirkt? Ihr Lächeln ist einfach umwerfend.«
»Sie hat einen guten Zahnarzt«, sagte ich, ergriff sie am Arm und führte sie zur Wand, damit wir nicht weiter im Weg standen.
»Sag mal«, fuhr sie fort. »Du und Mr Carruthers, ihr steht euch ziemlich nahe, nicht wahr?«
»Rolly und
Weitere Kostenlose Bücher