Ohne ein Wort
Graben geworfen wurde.«
»Sie meinen …«
»Also, eine Vergewaltigung war es wohl nicht … obwohl man ja nie weiß. Aber meine Schwester war kein Kind von Traurigkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls war da irgendwas mit einem Mann an jenem Abend. Ich frage mich bis heute, ob er es war, dersie umgebracht und den Mord anschließend wie einen Unfall hingedreht hat.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Connie und ich, wir standen uns ziemlich nahe. Ihr Lebensstil war nicht mein Fall, aber ich bin selbst kein Engel und sollte besser nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Die Sache verfolgt mich bis heute, und ich wünschte, sie würden den Dreckskerl kriegen, der Connie auf dem Gewissen hat. Aber inzwischen ist es so lange her, dass der Bursche vielleicht längst selbst ins Gras gebissen hat.«
»Ja«, sagte ich. »Gut möglich.«
Nach dem Gespräch mit Gormley saß ich eine ganze Weile einfach nur am Schreibtisch, starrte ins Leere und überlegte.
Dann öffnete ich das E-Mail-Programm, um nachzusehen, ob ich neue Nachrichten hatte. Es war der übliche Mist – Viagra im Sonderangebot, Börsentipps, billige Rolex-Uhren, Kreditfinanzierungen und Offerten von Witwen nigerianischer Goldminenbesitzer, denen man helfen konnte, ihre Millionen auf ein amerikanisches Konto zu transferieren. Unser Spam-Filter hielt nur einen kleinen Teil dieser elektronischen Belästigungen ab.
Und dann war da noch eine E-Mail von einer Hotmail-Adresse, die sich ausschließlich aus Ziffern zusammensetzte – 12051982 – und den Worten »Nicht mehr lange« in der Betreff-Zeile.
Ich klickte sie an.
Die Nachricht war kurz. Dort stand: »Liebe Cynthia – Wie schon gesagt: Deine Familie vergibt dir. Aber eine Frage wird immer bleiben: Warum?«
Ich las das Ganze bestimmt fünfmal, ehe ich den Blick wieder auf die Betreff-Zeile richtete.
Nicht mehr lange.
Was sollte nicht mehr lange dauern?
VIERUNDZWANZIG
»Wie kommt dieser Jemand an unsere E-Mail-Adresse?«, fragte ich Cynthia. Sie saß vor dem Computer und starrte auf den Bildschirm. Kurz zuvor hatte sie unwillkürlich die Hand ausgestreckt, als würde sie mehr begreifen, wenn sie den Monitor berührte.
»Mein Vater«, stieß sie hervor.
»Was ist mit deinem Vater?«, fragte ich.
»Als er den Hut in die Küche gelegt hat«, sagte Cynthia. »Vielleicht war er ja auch hier oben und hat den Computer angeschaltet. Dann könnte er auch unsere E-Mail-Adresse wissen.«
»Cyn«, sagte ich vorsichtig, »es gibt nach wie vor keinen Beweis, dass es überhaupt dein Vater war, der uns den Hut ins Haus geschmuggelt hat.«
Kurz fiel mir mein Verdacht ein, dass Cynthia den Hut selbst auf dem Küchentisch platziert haben könnte. Und für einen Sekundenbruchteil kam mir der Gedanke, dass es kinderleicht war, sich eine Hotmail-Adresse zuzulegen und eine E-Mail an sich selbst zu schicken. Aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder.
Ich spürte, dass Cynthia mein Kommentar nicht gefiel, daher fügte ich hinzu: »Aber natürlich hast du recht. Derjenige, der uns den Hut untergejubelt hat,könnte hier herumgeschnüffelt haben und so an unsere E-Mail-Adresse gekommen sein.«
»Also muss es sich um ein und dieselbe Person handeln«, sagte Cynthia. »Der anonyme Anrufer hat auch diese Mail geschrieben. Und ist außerdem in unser Haus eingedrungen und hat den Hut zurückgelassen. Den Hut meines Vaters.«
Das klang logisch. Sorge bereitete mir allerdings die Frage, wer diese Person war. Etwa dieselbe, die Tess umgebracht hatte? War es der Mann, den ich spätabends durch Grace’ Teleskop vor unserem Haus erspäht hatte?
»Und er spricht immer noch von Vergebung«, sagte Cynthia. »Ich verstehe einfach nicht, was das soll. Und was heißt ›Nicht mehr lange‹?«
Ratlos schüttelte ich den Kopf. »Die E-Mail-Adresse bringt uns jedenfalls auch nicht weiter«, sagte ich und wies auf den Bildschirm. »Bloß aufs Geratewohl zusammengetippte Nummern.«
»Das stimmt nicht«, sagte Cynthia. »Das ist ein Datum. 12 . Mai 1982 . In dieser Nacht ist meine Familie verschwunden.«
»Wir sind in Gefahr«, sagte Cynthia, als wir schlafen gehen wollten.
Sie saß im Bett, die Decke über die Beine gebreitet. Ich stand vor dem Schlafzimmerfenster und spähte ein letztes Mal hinaus auf die Straße, ehe ich zu ihr unter die Decke kroch. Seit dem Vorfall mit dem nächtlichen Besucher suchte ich jeden Abend die Straße ab.
»Hier sind wir jedenfalls nicht sicher«, sagte sie. »Und
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