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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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Appetit hatte es ihr entgegen meinen Befürchtungen allerdings nicht verschlagen. Als wir zu Hause ankamen, klagte Grace, sie sei am Verhungern – wenn sie nicht sofort etwas zu essen bekäme, würde sie auf der Stelle tot umfallen. »Oh, sorry«, sagte sie dann.
    Cynthia lächelte. »Hast du Lust auf ein Thunfischsandwich?«
    »Ja«, sagte Grace. »Mit Sellerie.«
    »Ich weiß nicht, ob wir Sellerie haben«, sagte Cynthia.
    Grace ging zum Kühlschrank und öffnete das Gemüsefach. »Da ist welche, aber ich glaube, die ist nicht mehr ganz frisch.«
    »Zeig mal her«, sagte Cynthia.
    Ich hängte meine Anzugjacke über die Stuhllehne und lockerte meine Krawatte. In der Schule muss ich so gut wie nie Anzüge tragen; jedenfalls fühlte ich mich ziemlich unwohl in dem förmlichen Aufzug. Ich setzte mich, verdrängte alles, was heute passiert war, und sah meinen beiden Mädchen zu. Cynthia nahm eine Dose Thunfisch und einen Dosenöffner zur Hand, während Grace die Selleriestangen auf die Anrichte legte.
    Cynthia ließ das Öl aus der Konservendose abtropfen, gab den Thunfisch in eine Schüssel und bat Grace, das Mirakel Whip aus dem Kühlschrank zu holen. Grace nahm das Glas heraus, drehte den Deckel ab und stellte es auf die Anrichte. Sie griff nach einer Selleriestange und wedelte damit herum wie mit einem Stück Gummi. Spielerisch schlug sie ihre Mutter damit auf den Arm.
    Cynthia wandte sich um, schnappte sich ihrerseits eine Selleriestange und schlug zurück. Sie standen sich gegenüber und begannen zu fechten. »Nimm dies!«, rief Cynthia. Dann begannen sie beide zu lachen.
    Ich hatte mich immer gefragt, wie Cyns Mutter wohl gewesen war. Nun wusste ich endlich die Antwort.

    Nachdem Grace gegessen hatte und nach oben gegangen war, um sich umzuziehen, sagte Cynthia: »Du siehst toll aus heute.«
    »Du auch«, sagte ich.
    »Es tut mir leid«, sagte sie.
    »Hmm?«
    »Es tut mir leid. Natürlich trägst du keine Schuld an Tess’ Tod. Ich hätte das nicht sagen dürfen.«
    »Schon okay. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte.«
    Sie sah zu Boden.
    »Kann ich dich etwas fragen?«, sagte ich.
    Sie nickte.
    »Hast du eine Ahnung, warum dein Vater einen Zeitungsausschnitt über einen Unfall mit Fahrerflucht aufbewahrt hat?«
    »Wovon redest du?«, fragte sie.
    »Von einem Zeitungsbericht«, sagte ich. »Den dein Vater aufbewahrt hat.«
    Die Schuhkartons standen nach wie vor auf dem Küchentisch. Der Zeitungsausschnitt mit dem Artikelüber Fliegenfischen und der Meldung über die Frau aus Sharon lag obenauf.
    »Zeig mal«, sagte Cynthia und trocknete sich die Hände ab. Vorsichtig nahm sie den Zeitungsausschnitt aus meiner Hand entgegen, als sei er aus Pergament. Dann las sie, wie die Frau auf dem Highway von einem Wagen erfasst und von dessen Fahrer vermutlich in den Straßengraben geschleift worden war.
    »Ich fasse es nicht«, sagte sie. »Das ist mir nie aufgefallen.«
    »Wie auch?«, sagte ich. »Du hast gedacht, es ginge nur um den Artikel über Fliegenfischen.«
    »Vielleicht hat er ihn ja genau deswegen aufbewahrt.«
    »Zum Teil bestimmt«, sagte ich. »Aber ich frage mich, was ihm zuerst ins Auge gestochen ist. Wollte er den Bericht über den Unfall ausschneiden, aber dann ist ihm plötzlich der Artikel übers Fliegenfischen aufgefallen? Oder hat er erst die Story übers Fliegenfischen bemerkt und dann die kleine Meldung mit ausgeschnitten, aus welchen Gründen auch immer?« Ich hielt kurz inne. »Oder ging es ihm um den Bericht über den Unfall, und er hat die Geschichte übers Fliegenfischen mit ausgeschnitten, um unliebsame Fragen zu vermeiden – etwa von deiner Mutter?«
    Cynthia gab mir den Zeitungsausschnitt zurück. »Was in aller Welt willst du damit sagen?«
    »Ach, ich weiß es auch nicht«, sagte ich.
    »Immer wenn ich in meinen Erinnerungsstücken krame«, sagte Cynthia, »hoffe ich, irgendetwas zu finden, was ich nie zuvor bemerkt habe. Es ist absolutfrustrierend, weil ich am Ende doch immer nur mit leeren Händen dastehe. Und trotzdem klammere ich mich an die Hoffnung, eines Tages irgendeinen winzigen Hinweis zu finden, der alle Teile des Puzzles zusammenfügt.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
    »Wie hieß die Frau noch mal, die bei dem Unfall getötet wurde?«
    »Connie Gormley«, sagte ich. »Sie war siebenundzwanzig.«
    »Den Namen habe ich noch nie gehört. Dieser Zeitungsausschnitt bringt uns kein bisschen weiter. Aber was, wenn

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