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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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offen stand.
    Einen Moment lang setzte mein Herz aus.
    »Ruf die Polizei«, sagte ich zu Cynthia.
    »O Gott«, sagte sie.
    Ich knipste die Außenbeleuchtung an und lief barfuß in den Garten.
    »Grace!«, rief ich.
    Und dann hörte ich plötzlich ihre Stimme. Sie klang ziemlich genervt.
    »Dad, mach das Licht aus!«
    Ich sah nach rechts, und da stand Grace im Pyjama vor dem Stativ mit dem Teleskop, das auf den Nachthimmel gerichtet war.
    »Ist was?«, fragte sie.

    Eigentlich hätten wir uns am nächsten Morgen freinehmen müssen, beschlossen aber, ganz normal zur Arbeit zu gehen.
    »Es tut mir echt leid«, sagte Grace ungefähr zum hundertsten Mal, während sie ihre Cheerios aß.
    »Mach so etwas nie wieder «, sagte Cynthia.
    »Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut.«
    Cynthia war die ganze Nacht nicht von ihrer Seitegewichen. Fest stand, dass sie Grace in nächster Zeit nicht aus den Augen lassen würde.
    »Weißt du eigentlich, dass du schnarchst?«, sagte Grace zu ihr.
    Am liebsten hätte ich gelacht, konnte es mir aber gerade noch verkneifen.
    Wie immer verließ ich als Erster das Haus. Cynthia sagte nicht einmal tschüs, brachte mich auch nicht zur Tür. Offenbar hatte sie unseren Streit von letzter Nacht nicht vergessen. Statt unsere Kräfte zu bündeln, schienen wir uns immer weiter voneinander zu entfernen, als wäre ein unsichtbarer Keil zwischen uns getrieben worden. Cynthia glaubte nach wie vor, dass ich nicht mit offenen Karten spielte, dass ich ihr weiterhin Dinge verschwieg. Während ich Probleme mit Cynthia hatte, die ich sogar mir selbst gegenüber nur schwer benennen konnte.
    Cynthia glaubte, dass ich sie für die Schwierigkeiten verantwortlich machte, die in jüngster Zeit über uns hereingebrochen waren. Und es war nicht zu leugnen, dass ihre Vergangenheit, das sprichwörtliche Päckchen, das sie mit sich herumschleppte, uns das Leben schwer machte. Vielleicht gab ich ihr teilweise tatsächlich die Schuld daran, auch wenn sie nichts dafür konnte, dass ihre Familie damals verschwunden war.
    Natürlich verband uns die gemeinsame Sorge um Grace, die bange Frage, wie sich die Ereignisse der letzten Zeit auf sie auswirken würden. Unsere Tochter hatte ihren eigenen Weg gefunden, mit den Problemen fertigzuwerden, die unser Leben bestimmten. Offenbar bot ihr selbst die Beschäftigung mit mörderischen Asteroiden eine Art Ausweg. Und nun war ihre Flucht vorder Wirklichkeit auch noch zum Auslöser einer neuen Krise geworden.

    Meine Schüler verhielten sich erstaunlich taktvoll. Anscheinend hatte sich herumgesprochen, warum ich zwei Tage lang nicht in der Schule gewesen war. Ein Todesfall in der Familie. In der Zwischenzeit hatten sie sich an meiner Vertretung schadlos gehalten. Wie alle echten Raubtiere nutzen Schüler die Schwächen ihrer Opfer rücksichtslos aus. Meine Vertretung stotterte kaum merklich; eigentlich hörte man es nur, wenn sie am Anfang eines Satzes leicht ins Stocken kam, doch das reichte den Kids bereits, um sie erbarmungslos nachzuäffen. Wie mir andere Kollegen beim Mittagessen erzählten, war sie am ersten Tag in Tränen aufgelöst nach Hause gefahren. Mitleid hatte keiner. Die Schulkorridore waren ein gnadenloser Dschungel, in dem nur die Starken überlebten.
    Mir gegenüber zeigten sie ein wenig mehr Zurückhaltung. Nicht nur die Kids in meinem Schreibkurs, sondern auch die Schüler meiner beiden Englischklassen. Allerdings wohl kaum aus Pietät, wie mir klar war. Tatsächlich lauerten sie nur darauf, ob ich mich irgendwie verändert hatte, ob ich eine Träne vergießen, plötzlich die Beherrschung verlieren oder die Tür hinter mir zuknallen würde.
    Den Gefallen tat ich ihnen nicht. Was wiederum bedeutete, dass ich für den kommenden Tag keine Sonderbehandlung erwarten durfte.
    Jane Scavullo blieb an meinem Pult stehen, während die anderen Kids des Schreibkurses den Raum verließen.
    »Tut mir leid, das mit Ihrer Tante«, sagte sie.
    »Danke«, sagte ich. »Eigentlich war es die Tante meiner Frau, aber sie stand mir ebenfalls sehr nahe.«
    »Tja«, sagte sie und trabte hinter den anderen her.
    Kurz nach Mittag kam ich am Sekretariat vorbei. Im selben Moment trat eine der Sekretärinnen aus der Tür und blieb abrupt stehen, als sie mich erblickte.
    »Oh, da sind Sie ja!«, rief sie. »Ich habe es schon im Lehrerzimmer versucht.«
    »Was gibt’s denn?«, fragte ich.
    »Ein Anruf für Sie«, sagte sie. »Ich glaube, es ist Ihre Frau.«
    Ich folgte ihr ins Sekretariat. Sie

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