Ohne ein Wort
Küchentisch saß und mir die Tränen über die Wangen strömten. Jedenfalls lange genug, bis keine mehr kamen. Und nachdem ich meinen Vorrat an Tränen verbraucht hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir etwas anderes auszudenken.
Ich ging wieder nach oben und zog mich an. Dabei führte ich mir einige Dinge vor Augen.
Erstens, dass Cynthia und Grace wohlauf waren. Schließlich waren sie ja nicht gekidnappt worden. Zweitens würde Cynthia nicht zulassen, dass Grace etwas geschah, egal wie durcheinander sie war.
Sie liebte Grace über alles.
Aber was mochte meine Tochter denken? Darüber, dass ihre Mutter sie mitten in der Nacht geweckt und sich mit ihr aus dem Haus geschlichen hatte – klammheimlich, damit Daddy nichts merkte.
Cynthia musste felsenfest davon überzeugt gewesen sein, dass sie das einzig Richtige tat. Trotzdem hätte sie Grace niemals in die Sache hineinziehen dürfen.
Und deshalb sah ich nicht den geringsten Grund, ihrer Bitte nachzukommen. Natürlich würde ich nach ihnen suchen.
Grace war meine Tochter. Ich wusste nicht, wo sie war. Nichts und niemand würde mich davon abhalten, sie zu finden. Und vielleicht würde es mir ja sogar gelingen, Cynthia wieder zur Vernunft zu bringen.
Ich ging ans Regal, nahm zwei Karten von Neuengland und dem Staat New York heraus und entfaltete sie auf dem Küchentisch. Manchmal nützen einem die Routenplaner im Internet eben nichts; ich benötigte größeren Überblick.
Ich ließ den Blick von Portland nach Providence und von Boston nach Buffalo schweifen und fragte mich, was wohl Cynthias Ziel war. Otis fiel mir ins Auge, der kleine Ort an der Grenze von Connecticut und Massachusetts, wo der See lag, in dem die Polizei die beidenLeichen gefunden hatte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie dort hinfahren würde. Nicht mit Grace im Schlepptau. Und außerdem, was sollte sie dort an Neuem in Erfahrung bringen?
Dann war da noch das Örtchen Sharon, wo Connie Gormley gelebt hatte, die Frau, die bei dem ominösen Unfall mit Fahrerflucht getötet worden war. Das schied meiner Meinung nach ebenso aus. Cynthia hatte dem Zeitungsausschnitt ohnehin keine größere Bedeutung beigemessen.
Aber vielleicht brachte mich die Karte auch gar nicht weiter. Womöglich würde Cynthia versuchen, mit Menschen aus ihrer Vergangenheit in Kontakt zu treten – Menschen, von denen sie sich erhoffte, dass sie ihr weitere Antworten liefern konnten.
Ich ging ins Wohnzimmer. Die beiden Schuhkartons mit den Erinnerungsstücken aus Cynthias Kindheit befanden sich immer noch auf dem Couchtisch. Bis jetzt waren wir nicht dazu gekommen, sie wieder in dem Wandschrank zu deponieren, wo sie all die Jahre gestanden hatten.
Aufs Geratewohl kramte ich in den Kartons, beförderte alte Quittungen und Zeitungsausschnitte auf den Tisch, ohne dass mir irgendetwas auch nur den geringsten Anhaltspunkt geboten hätte. Es war, als hätte ich ein riesiges Puzzle vor mir, dessen Teile nicht zusammenpassen wollten.
Ich marschierte zurück in die Küche und rief Rolly auf seiner Privatnummer an; in der Schule war er so früh am Morgen sicher noch nicht. Millicent ging dran.
»Hi, Terry«, sagte sie. »Alles okay? Was gibt’s denn?«
»Hallo, Millie«, sagte ich. »Hat sich Cynthia zufällig bei euch gemeldet?«
»Cynthia? Nein. Terry, was ist denn los? Ist sie nicht zu Hause?«
»Sie ist weg. Mit dem Auto. Und sie hat Grace mitgenommen.«
»Warte, ich hole Rolly.«
Ich hörte, wie sie das Telefon beiseitelegte. Ein paar Sekunden später war Rolly am Apparat. »Cynthia ist weg?«
»Ja. Und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Scheiße. Ich hatte mir vorgenommen, sie heute anzurufen, mal ein paar Takte mit ihr zu reden. Hat sie nicht gesagt, wo sie hinwill?«
»Rolly, wenn ich das wüsste, würde ich dich bestimmt nicht um diese Uhrzeit anrufen.«
»Ist ja schon gut. Mann, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Warum macht sie so was? Habt ihr euch gestritten?«
»Ja, haben wir. Es war meine Schuld. Außerdem ist ihr der ganze Irrsinn anscheinend über den Kopf gewachsen. Sie hat furchtbare Angst um Grace. Gib mir Bescheid, wenn sie sich bei euch meldet, okay?«
»Auf jeden Fall«, sagte Rolly. »Und du melde dich ebenfalls, wenn du sie findest.«
Anschließend rief ich bei Dr. Kinzler an. Die Praxis hatte noch nicht geöffnet; der Anrufbeantworter schaltete sich an. Ich erklärte kurz, was passiert war, und hinterließ Telefon- und Handynummer.
Kurz überlegte ich,
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