Ohne Ende Leben - Roman
Und deshalb bestehen wir aus nicht mehr als aus Atomen und Hoffnung, aus einer Handvoll Sternenstaub und Muskeln. Wir sind müde Wanderer und suchen unseren Weg nach Hause auf einer Straße, die niemals endet. Bin ich ein Teil deines Traums? Oder bist du nichts anderes als ein Teil von mir? Willkommen, mein Bruder Phantasus! Gewiss leben wir in einem Trugbild, in einer Welt der Fantasie, und alle sind wir Spieler.«
»Das ist der Hammer, Mann!«, überbrüllt Gonzo den Lärm. »Ich will mit so nem Wagen zur Schule fahren! Whoohoo!« Er grinst und tanzt auf der Stelle. »Wenn ich abtrete, dann genau so! Nichts als Party pur, weißt du.«
»Ja, sicher«, sage ich, aber irgendwas drückt in meiner Brust, als ich diesen Leichenzug die Straße hinuntermarschieren sehe. Das erste Mal, seit wir aus dem Bus gestiegen sind, wird mir bewusst, wie verrückt das alles ist, wie unheimlich und wie ungewiss. Ich bin beim Mardi Gras, eingeklemmt zwischen bierseligen Saufbolden, mit nichts weiter in der Birne als einem diffusen, wahrscheinlich wahnwitzigen Glauben, dass ich genau da bin, wo ich sein sollte. Meine Beine durchfährt ein seltsames Kribbeln, und ich bemühe mich, nicht in Panik zu geraten.
Zeichen. Fügungen. Der Zufall.
Krampfhaft suche ich nach Hinweisen. Ist irgendwo auf einem dieser Festwagen ein Transparent, auf dem steht »Dr. X ist hier«? Eine Plakatwand mit einem Pfeil drauf, der mir zeigt, wo’s langgeht? Ich reibe mit der Hand übers Armbanddes E-Tickets und hoffe, dass es mich lang genug vor diesen bösartigen Prionen beschützt, um Dr. X zu finden, wo immer er sein mag.
Durch die Straße schwappt eine neue Woge des Jubels und zieht mich zurück zur Parade.
Morpheus lacht und bläst irgendeinen Glitzerstaub in unsere Richtung, der unsere Hemden funkeln und mich wie wild niesen lässt. Ich suche in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch und finde das Streichholzbriefchen, das mir die Lady im Bus gegeben hat.
The Golden Trumpet Club. Junior Webster. 141 N. Rampart
.
Zeichen. Fügungen. Der Zufall.
»Komm schon«, sage ich und stoße Gonzo am Arm. »Zeit zu gehen.«
»Gehen? Aber wir sind doch grad erst angekommen. Gehen – wohin?«
»Hier«, sage ich und werfe Gonzo das Streichholzbriefchen zu. Der fummelt dran herum und steckt es ein.
»Was ist das?«
»Unser nächstes Ziel.«
KAPITEL NEUNZEHN
In dem wir einer Dragqueen begegnen und dem berühmtesten lebenden oder toten Jazzmusiker
»Also, lass mich das klarstellen: Das Bild auf einem Streichholzbriefchen zeigt uns den Weg?«, fragt Gonzo.
»Lauf einfach weiter.« Auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Straße komme ich in die Gänge.
Nur wenige Leute sind hier unterwegs und sie gehen in die entgegengesetzte Richtung. Die Häuser liegen im Dunkeln, die Jalousien sind heruntergelassen und die Wände zugekleistert von alten, zerrissenen Zetteln mit unscharfen Bildern lächelnder Menschen und mit von Hand gekritzelten Hilferufen:
Vermisst! Wer hat sie/ihn gesehen? Unsere Großmutter / unser Bruder / unsere Schwester / unser Vater. Bitte anrufen!
Die Zettel sind so verschlissen, dass sie schon mit dem Ziegelgemäuer zu verschmelzen scheinen, wie Geister aus Papier.
Gonzo läuft neben mir, grummelt vor sich hin und schaut nach links und nach rechts. »Sieht aus wie ein übles Viertel, Alter.«
Zwei Typen in tiefsitzenden Jeans und mit Baseballmützen lehnen mit verschränkten Armen an einer Hauswand. Ein anderer Typ stößt dazu und dann noch einer. Das erinnert mich an einen Horrorfilm, den ich mal gesehen habe, in dem diese Vögel langsam einen Spielplatz bevölkern,während die Lady dasitzt, eine Zigarette raucht und an nichts Böses denkt.
»Scheiße. Jetzt sind’s schon vier«, sagt Gonzo.
»Lauf einfach weiter und lass dir nichts anmerken.«
»Ich
hab
aber Angst, Alter. Sie können uns total in den Arsch treten.«
Die Typen schließen sich uns an. Wir laufen schneller. Sie auch. Wir biegen in die Rampart Street ein. Sie folgen uns. Kann sein, dass sie einfach denselben Weg haben wie wir. Kann sein, dass uns unsere Ärsche bald auf einem Tablett serviert werden.
»Oh Mann, wir sind so was von tot.«
»Bleib einfach cool.«
Die Tür eines kleinen Hauses geht auf. Licht und Partygeräusche schwappen über den Gehsteig. Vor uns läuft die größte Frau, die ich je gesehen habe. Mit Stöckelschuhen ist sie ungefähr zwei Meter groß und sieht aus wie ein Festwagen. Ihre Augen sind mit glitzernd blauem
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