Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Schrift stand: »Erziehung ist Pflicht!« In fünf Sprachen wurde der Zusatz »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft« übersetzt. Es war eine Initiative des Bezirksamtes Neukölln und seines Migrationsbeirats. Sie begründeten die Aktion damit, dass »gerade unser Bezirk prädestiniert dafür ist, offensiv für die elementaren Grundlagen unseres Gesellschaftssystems zu werben und sie so in das Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger zu tragen«.
Paradox, dachte ich bei mir. Das ganze Land beklatschte sich selbst für seine seit 1949 beste jemals zustande gebrachte Verfassung, und auf der anderen Seite tadelte man die Neuköllner, behandelte sie wie Gesetzlose, die ihre Kinder nicht im Griff haben, und erinnerte sie nicht gerade höflich daran, sich gefälligst an die Regeln des Landes zu halten. Insgesamt wurden vier verschiedene Plakate in den U-Bahnhöfen und an den Litfasssäulen Neuköllns aufgehängt, die die Mitbürger in die Pflicht nahmen, ihre Kinder nach deutschen Standards zu integrationskompatiblen Menschen zu erziehen. Die anderen drei Plakate, die ich auf der Homepage des Bezirksamtes entdeckte, befassten sich mit der Würde, Gleichberechtigung und Benachteiligung. Doch in dem einen Monat, in dem die Plakate wöchentlich ausgetauscht werden sollten, fand ich bei jedem meiner Besuche in Neukölln kurioserweise nur das Plakat »Erziehung ist Pflicht!« vor.
An der U-Bahn-Haltestelle Rathaus Neukölln fiel mir dafür Tage später ein neues Plakat ins Auge. »Arbeit zuerst für Ausländer (Zum Glück sind wir alle geschichtlich betrachtet Ausländer) Meine Welt heißt gleiche Chancen. Die Ausländerdiskussion geht einem pornomäßig aufs Schwein. Vielen geht es hier echt zu gut. (Kutsche fahren, beheizte Wohnung, drei Mahlzeiten, Freizeit, Urlaub, Geld vom Staat, Fernsehen, Video, MP3, teure Kleidung, Hunde, große Schnauze, Alkohol, billig, KV, RV, Sparkonto, youporn …)«, war dort zu lesen. Das Plakat nannte keinen Urheber. Mein Verdacht fiel sofort auf Thilo Sarrazin. Den Verdacht konnte ich aber nicht bestätigen. In einem Rechtsstaat gilt schließlich die Unschuldsvermutung. Und eigentlich war ich mir auch nicht sicher, wie ich diese zweideutige Botschaft einordnen sollte, da jeder vierte Neuköllner »Geld vom Staat« bezieht und jeder dritte der 300.000 Einwohner einen Migrationshintergrund hat.
Eines bewirkten beide Plakataktionen allerdings. Sie schubsten mich in die Vergangenheit zurück, in meine Schulzeit in Deutschland. Ich stellte mir die kritische Frage, was ich aus dieser Zeit für das Leben mitgenommen hatte. Bis auf die westlichen Philosophen und die deutsche Geschichte, vom Mittelalter über den Nationalsozialismus bis hin zur Wiedervereinigung, war es nicht wirklich viel. Nach der elften Klasse verließ ich Deutschland, um meine schulische Laufbahn in Amerika fortzusetzen. Mit einigen ehemaligen Klassenkameraden blieb ich in Kontakt. Als ich Deutschland verließ, behandelten wir im Geschichtsunterricht gerade den Nationalsozialismus. Meine alten Schulkameraden erzählten mir später, dass sich bis zum Abitur am Unterrichtsstoff nichts mehr änderte.
Für mich kam alles anders in Amerika. In Minnesota brachte ein Inder mir die europäische Geschichte bei. An meiner Universität in Vermont war es für mich Pflicht, den Race-&-Ethnicity-Kurs zu belegen. Die Universität verpflichtete jeden ihrer Studenten, egal welcher Fachrichtung, dazu, den Kurs zu belegen. Der Race-&-Ethnicity-Kurs befasste sich mit der Einwanderungsgeschichte Amerikas. Manche Kommilitonen saßen gelangweilt auf ihren Stühlen herum, nicht interessiert an der Geschichte, wie die Chinesen, Koreaner, Italiener, Iren oder Afroamerikaner ins Land gekommen waren. Ihr Interesse beschränkte sich zu dem Zeitpunkt auf Pizza, Pasta und frittierte Bananen mit Honig. Warum entstanden ethnische Enklaven wie Chinatown oder Little Italy, war eine der vielen Fragen, die wir im Kurs behandelten. Ein faszinierender Kurs. Ich bin mir sicher, dass die Kursabsolventen etwas für ihr Leben mitnahmen, egal, ob sie am Thema interessiert waren oder nicht. Den Einwanderern wurde eine Würde verliehen, was bewirkte, dass man sie mit anderen Augen sah, ihnen anders begegnete – selbst dem Essen.
Was lernen junge aufstrebende Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, außer, dass die Republik
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