Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
auf der Suche nach allen möglichen Superstars ist? Was lernen jene, die in Neukölln aufwachsen, was sie mit ins Leben nehmen können? Warum herrscht so eine große Orientierungs- und Chancenlosigkeit unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund?
Der verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden Paul Spiegel hat einmal etwas gesagt wie: »Wer die Augen vor der Vergangenheit schließt, läuft Gefahr, blind durch die Gegenwart zu gehen.« Ich allerdings verschließe gerne meine Augen vor der Vergangenheit. Aber blickt man in die Augen dieser jungen Menschen, dann sehe ich keine Charaktere, die gefestigt und selbstbewusst sind. Ich sehe Menschen, deren Wurzeln beim geringsten Windstoß aus der Erde herausgerissen werden, die blind durch ihr Leben gehen. Sie leiden nicht unter Identitätskonflikten. Dazu müsste man nämlich seine wahre Identität kennen.
Die Geschichte der Gastarbeiter ist deutsche Geschichte, doch im nationalen Gedächtnis wird sie verdrängt und als Geschichte der jeweiligen Entsendeländer verstanden. In einem Einwanderungsland gehört es zur Aufgabe der historisch-politischen Bildungsarbeit, jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund diese neue deutsche Geschichte zu vermitteln. Bei vielen Generationen haben wir versäumt, das zu tun, obwohl Deutschland schon immer ihr Land war oder ihnen längst zur Heimat geworden ist. Vielleicht haben wir sie für immer verloren. Vielleicht können wir sie auch zurückgewinnen. Die Anstrengung ist es wert, wenn wir wirklich an den Satz glauben, den wir so oft aussprechen, nämlich dass wir keine Kinder zurücklassen können und dass die Kinder unsere Zukunft sind.
Noch ist es so, dass die jungen Menschen mit Migrationshintergrund auf eine Geschichte und Kultur eingestellt werden, mit der sie sich nicht identifizieren können. Sie verlassen die Schule mit dem Gefühl, dass es nicht ihre Bundeskanzlerin oder ihr Bundespräsident ist, die sie repräsentieren. Dennoch gibt es einige, die gelegentlich diese Geschichte und Kultur als die ihre annehmen. Doch spätestens nach ihrer Schulzeit werden sie von dieser Kultur, dieser Geschichte, den Werten, die diese Gesellschaft ausmachen, und ihren Akteuren, in der realen und beruflichen Welt benachteiligt, diskriminiert, und ausgegrenzt. Schnell werden sie begreifen, dass dieses Land keinen Platz für ihre Träume hat, ihnen Grenzen aufweist, dass sie auf dem Arbeitsmarkt bei gleicher Eignung benachteiligt werden und ihr oft exotischer Nachname und ihr anderes Aussehen eine große Bürde sind. Sie lernen, dass die Verfassung nicht die ihre ist, dass Gleichberechtigung und Schutz vor Benachteiligung nicht ihnen zuteilwerden, dass ihre Stimme in der Gesellschaft nicht zählt und ihre Menschenwürde antastbar ist. Sie stellen sich die Frage, wie viel von ihrer Persönlichkeit sie aufgeben müssen, um akzeptiert zu werden. Sie begreifen, dass sie in ihrem Land nur toleriert werden. Schließlich kann man nur jemanden tolerieren, den man nicht mag. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Russlanddeutschen, die vor einigen Jahren nach Deutschland kam. Das Erste, wozu ihr eine Beamtin riet, war, eine Namensänderung vorzunehmen. Sie schickte ihr auch prompt eine Liste mit deutschen Vornamen.
Die Herkunft bringt viele um ihre Zukunft. Je länger wir diese jungen Menschen nicht als Teil unserer Gesellschaft begreifen, desto stärker wird ihr Sturm und Drang sein, sich hinter der Religion und Nationalität der Eltern einzumauern. Ich bin der festen Überzeugung, dass hinter all der Ausgrenzung die Lobby der Plastikchirurgie steckt, die das Geschäft ihres Lebens wittert. Denn wenn sich alle Migranten in Deutschland unters Messer legen, um deutsch zu werden, dann werden die Kassen klingeln.
Neukölln mag kein Ort des Dolce Vita sein, dafür aber La Vida Loca. Nur auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln sieht man so viele Nationalitäten friedlich auf Parkbänken zusammensitzen und über Gott und die Welt diskutieren. Es ist eine Mischung aus Christopher-Street-Day und Karneval der Kulturen. Neukölln ist deutscher, als man denkt. Doch mit der Rütli-Schule fing die mediale Ausschlachtung an. Seitdem ist der Kiez berühmt-berüchtigt und Paradebeispiel verfehlter Integration. Von vornherein bestand keine Chance auf eine objektive Darstellung. Fast alle Journalisten waren Einheimische, die mit vorgefertigten Meinungen über Neukölln berichteten. Noch heute entdecke ich ab und an Kamerateams auf der
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