Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
weiß, kann viel verlieren!«
Eines ist mir heute klar. Hinter den nicht gemachten Hausaufgaben von Tarek, Süleyman und Sedat verbarg sich eine klare Unterforderung. Versteckt in ihnen schlummerte Begabung, die von den Pädagogen nicht entdeckt wurde. Gefangen im Bildungswahn koreanischer Eltern in Deutschland konnte ich von Tareks, Süleymans und Sedats Weisheit nie Gebrauch machen. Mir blieb keine Wahl. Zudem fehlte es mir an einer gewissen Kaltschnäuzigkeit, wenn es darum ging, die Lehrer hinters Licht zu führen. Hätte ich etwa erzählen sollen, dass mein Hund die Hausaufgaben aufgefressen habe? Wo doch jeder sofort gedacht hätte, dass wir den Hund ohnehin schon längst selbst aufgegessen hätten? Welcher Lehrer hätte mir geglaubt?
Das ist einer der Gründe, warum die Koreaner in Deutschland einen so hohen Bildungserfolg vorzuweisen haben. Der andere ist, dass die meisten koreanischen Eltern eine asiatische Kampfkunst beherrschen. Für koreanische Eltern ist Bildung eine Kampfkunst, die sie im Zweifel immer durchboxen werden. Meine türkischen Freunde hingegen zogen alle Register und machten dabei nicht einmal Halt vor Allah und dem Koran. Durch meine Patentante, die uns zu frommen Katholiken zwangsmissionierte, blieb es mir verwehrt, den Lehrern weiszumachen, ich hätte anlässlich Buddhas Geburtstag, wegen körperlicher und geistiger Schwäche, die Hausaufgaben nicht erledigen können. Einige meiner türkischen Freunde nahmen hingegen häufig den Ramadan als Vorwand, weshalb sie ihre Hausaufgaben nicht hätten verrichten können. Und fast jeder Schultag war Ramadan für meine Freunde, was manche unwissende Lehrer durchgehen ließen.
Ich war todunglücklich darüber, dass in meiner Religion nicht jeder Tag Teil eines Fastenmonats sein konnte, und dachte ernsthaft darüber nach, ein Moslem zu werden.
Wenn ich mich mit Ahmet treffe, dann sind die alten Schultage oft Gesprächsthema. Ahmet ist so etwas wie ein wandelnder Nachrichtendienst. Da Ahmet noch in Krefeld lebt, weiß er über die aktuellen Lebensläufe unserer Mitschüler Bescheid. Sogar die Telefonnummer unserer Klassenlehrerin kennt Ahmet noch auswendig. So erfuhr ich, dass Tarek, der zur Grundschulzeit ein aufgeklärter Moslem war, eine nahezu kriminelle Karriere hinter sich hat. Um mit seiner Vergangenheit abzuschließen, findet Tarek heute, wie ich hörte, Halt in seiner Religion und eine geistige Heimat im Koran. Er ist strenggläubiger Moslem geworden, betet fünfmal am Tag und lebt zurückgezogen.
Uns alle verbindet nicht nur der vielberufene Migrationshintergrund, sondern auch die gleiche Startlinie ins Leben. Dennoch unterscheiden sich unsere Laufbahnen wie Tag und Nacht. Durch die IGLU- und PISA-Studien sind uns nun einige der Gründe bekannt, die für die unterschiedlichen Lebenswege mitverantwortlich sind. In keinem anderen Land als Deutschland entscheidet die soziale Herkunft derart stark über den Bildungs- und Lebenserfolg eines jungen Menschen. Denn tatsächlich nahmen die Wege von Cem, Tarek, Sedat und Süleyman einen folgeschweren Wendepunkt, als sie am Ende der Grundschule in die Hauptschule »überführt« wurden. Die Entscheidung der Hocas (Lehrer) ficht man nicht an, sie ist zu respektieren, so ist es eben in der asiatischen Kultur. Ahmet bekam eine Realschulempfehlung. Ich kam aufs Gymnasium.
Manchmal frage ich mich schon, wie es wohl für Cem, Tarek, Sedat und Süleyman gewesen wäre, wenn sie ihre Laufbahn auf einer Realschule oder einem Gymnasium begonnen hätten. Absteigen hätte man immer noch können. Der Aufstieg hingegen ist viel härter und mühevoller. Meine türkischen Freunde hätten eine andere Welt kennengelernt. Sie wären Menschen begegnet, die sie sonst in ihrem Viertel nie angetroffen hätten. Alle vier wären heute vielleicht Brückenbauer zwischen beiden Kulturen, Vermittler, die uns heute fehlen. Ihre Herkunft entschied über ihre Zukunft, die zu früh und zu schnell von Pädagogen besiegelt wurde. Jeder Mensch haftet selbst für sein Leben. Doch in diesen Fällen zerstörten auch Fehleinschätzungen Bildungswege, Träume und Talent. Ich bin mir sicher, wenn Sedat, Cem, Tarek und Süleyman einen anderen Weg kennengelernt hätten, könnten wir uns heute als Freunde, ohne Schamgefühl und vor allem mit einem Lachen im Gesicht gegenüberstehen.
Und dann ist da noch Mustafa Josef Maria, dem ich kürzlich am Krefelder Bahnhof begegnete. Mustafa Josef Maria war eines von wenigen Migrantenkindern, die nach
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