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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Hyun
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Öffnungszeiten widerspiegelt, ganz zu ihrem Vorteil. So kann man bereits um 8 Uhr in der Früh die 0,5 Promillegrenze überschreiten. Die Asiaten verfügen über keine Verjagungsqualitäten, die bei den türkischen Imbissbesitzern sehr ausgeprägt sind, die eine Assimilierung ihres Imbisses in ein gammliges Berliner Ecklokal nur über ihre Leiche tolerieren würden. Den Berliner Promille-Grenzgängern kommt diese Eigenschaft der Vietnamesen zugute, und so beginnen und beenden sie ihren Tag mit den Vietnamesen.
    In meinem Asia-Bistro um die Ecke habe ich bemerkt, wie diese Situation der Entmachtung den vietnamesischen Besitzern zu schaffen macht. Manchmal beobachte ich, wie der Besitzer selbst entnervt und verbittert mit einem Berliner Kindl und einer Kippe in der Hand düster in die Welt blickt. Vergeblich hatte der Besitzer gegen die Übernahme durch die letzten verbliebenen Berliner Rentner angekämpft. Mit Wegzappen von interessanten Fernsehsendungen hatte er es versucht, und auch mit gelegentlichen Wutausbrüchen, indem er mit seiner piepsigen Stimme sagte: »Gehen nach Hause!«
    Aber all das half nicht, und wenn man mit seinem vietnamesischen Latein am Ende ist, greift man nach unkonventionellen Mitteln. Als ich neulich im Asia-Bistro war, bemerkte ich, dass der Besitzer rund um die Theke eine Mauer aus Plexiglas errichtet hatte. Ich fragte ihn, warum er eine Plexiglasmauer um seine Theke gebaut habe. Nach einigem Zögern antwortete er: »Niemand hat die Absicht, eine Plexiglasmauer zu errichten! Ich liebe doch alle Menschen!«
    Die letzten verbliebenen Berliner haben die Mauer zur Kenntnis genommen, doch stören sie sich nicht weiter daran. Das lässt sie nur noch mehr in Nostalgie schwelgen. So hat der vietnamesische Besitzer mit seiner Mauer genau das Gegenteil erreicht. Mittlerweile herrscht an der Mauer Hochkonjunktur von den letzten verbliebenen Berlinern. Friedrichshain muss ein Loch sein. Aus den vermeintlich letzten sechs verbliebenen Berlinern verdreifachte sich ihre Zahl binnen kürzester Zeit auf satte achtzehn.
    Die Türken sagen, dass ihre Heimat dort sei, wo sie satt werden. Für die anspruchsloseren Berliner gilt: »Heimat ist dort, wo man blau wird.« Ihre Heimat verlassen die Berliner äußerst ungerne. Nur im Sarg lassen sich aus den Stadtgrenzen befördern, um in Tschechien eingeäschert zu werden. Damit das Jobcenter sie nicht in irgendwelche Maßnahmen steckt, die außerhalb Berlins zu verrichten sind, schränken sie sich stark in ihrer Mobilität ein und machen erst gar nicht den Führerschein.
    Man kann es den Berlinern nicht verübeln. Mögen sie die Ersten und Letzten sein, die das Licht ausmachen, wenn unsere kunterbunte Welt untergeht.

MEIN SPAZIERGANG DURCH BERLIN
    F rüher war es ein Traum, in Berlin zu leben. Heute ist es Wirklichkeit. Für einen Kulturbanausen und Zonendödel, wie meine Freundin Dani mich liebevoll nennt, war die Größe Berlins zunächst sehr einschüchternd. Doch nach fast drei Jahren Berlin kommt mir die Stadt wie ein kleines Dorf vor. Berlin ist meine Heimat geworden, mein Zuhause. An Wochenenden meide ich die Mitte Berlins, überlasse sie den Touristen und bleibe in meinem Kiez im Osten.
    Ich verlasse Berlin nur ungern, und wenn, dann ist es ein Ritual, dass ich bei meiner Rückkehr den Fernsehturm begrüße. Diese Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Denn der Turm ist auch immer für mich da, wenn ich ihn brauche, vor allem, wenn ich mich wieder einmal mit dem Fahrrad verfahren habe. Bei Dunkelheit blinkt der Turm mir zu und weist mir den Weg nach Hause. An warmen Frühlingstagen setze ich mich, wie einige andere, an die Modersohnbrücke, mit Blick Richtung Fernsehturm, und schaue dem Sonnenuntergang zu. Wenn ich genug davon habe, gehe ich weiter in Richtung Treptower Park. Über die Abteibrücke gehe ich auf die Insel der Jugend zu. Irgendwo finde ich einen Platz, wo ich ungestört auf die Spree schauen kann.
    Ich frage mich, wenn der Maler Heinrich Zille noch lebte, was er wohl heute für Bilder malen würde. Worüber würde Fontane schreiben, und was für Gedichte würde Rainer Maria Rilke verfassen? Bei meinem letzten Besuch im Treptower Park habe ich mindestens sechs mongolische Großfamilien gesehen. Sowieso sind an warmen Tagen im Treptower Park Gott und die Welt unterwegs. Wenn ich von dem Rummel der Menschen genug habe, gehe ich weiter zum sowjetischen Ehrenmal. Dieser Ort hat etwas, so wie der Ausblick vom Kino International auf die

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