Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Karl-Marx-Allee. Wenn man die Oberbaumbrücke mit ihren zwei Türmen im Neugotik-Stil betrachtet, dann wird einem bewusst, was für eine Verschwendung es war, die Flussüberquerung jahrzehntelang geschlossen zu halten.
Man mag es in einer Großstadt wie Berlin nicht glauben, aber die Stadt bietet viele Ruheoasen, in denen man neue Kraft schöpfen kann, wie etwa im Schlosspark in Pankow. Neue Kraft zu schöpfen ist wichtig, denn der Berliner Winter ist unglaublich grau, lang und kalt. An solchen Wintertagen wandere ich ab und an durch den Görlitzer Park, der an wärmeren Tagen meine afrikanischen Brüder in Scharen anlockt. Meistens sitzen sie auf den Parkbänken oder unter einem Baum, der ihnen Schatten spendet, und erholen sich wahrscheinlich von der Hetzjagd der Polizei mit ihren Ausweiskontrollen. Sie scheinen sehr fürsorgliche und kontaktfreudige Menschen zu sein, denn sie fragen fast jeden Passanten, der an ihnen vorbeigeht, ob er etwas brauche – und wünschen einem einen schönen Tag, wenn man höflich verneint.
Am Paul-Lincke-Ufer verfolge ich eine Partie Boule, bis mir die Lust vergeht, und lasse mich dann auf einer Parkbank nieder, mit einem Ayran in der Hand. Ich frage mich, was mein Berlin so besonders macht. Mein Berlin ist, wenn Fahrradschlösser teurer sind als das Fahrrad selbst, wenn am Trödelmarkt am Boxhagener Platz Armani-Anzug und Punkerkluft friedlich nebeneinanderstehen, wenn Obdachlose sich nicht mehr die Mühe machen, die Passanten auf den Straßen nach ein paar Cent zu fragen, sondern direkt vor den Bankeingängen stehen, wenn Nacktflitzer durch die Proskauer Straße laufen, als wäre es das Alltäglichste der Welt, wenn einem Hollywood-Größen entgegenkommen und man sich nicht die Blöße gibt hinterherzuschauen, wenn ein Ben Becker an regnerischen Tagen mit Sonnenbrille auf der Straße musiziert, und keiner hört hin, wenn Touristen Fahrradwege mit Bürgersteigen verwechseln und die Lichtschranke in den BVG-Bussen blockieren, wenn jemand mit Fireball-Wrestlingmaske auf der Parkbank sitzt und sich niemand daran stört, und wenn ein Osama Bin-Laden in der Bänschstraße frei herumlaufen kann, ohne Terroralarm zu schlagen.
Berlin, das ist: so sein zu dürfen, wie man ist, ohne dass einer die Nase rümpft. Mit seinen Ecken und Kanten ist Berlin auf der einen Seite tolerant und auf der anderen Seite ignorant. Berlin kann dich zerbrechen oder aber auch zu etwas machen. Letzteres ist wünschenswerter.
Eines ist klar, Berlin wird sie alle überdauern, die neuen und alten Migranten, die Alteingesessenen und Neuankömmlinge, die Guten und die Schlechten, die Gaukler und Politiker, die Neurotiker und Egozentriker, die Reichen und Armen und die Opportunisten und Narren dieser Welt.
FREUNDLICHKEITSKAMPAGNEN
M it 15.100 Patenten kommen die meisten deutschen Erfindungen aus Baden-Württemberg. Es muss etwas in den Maultaschen und Spätzle stecken, was die Schaffenskraft der Schwaben mit ihrem »Schaffe, schaffe, Häusle baue!« so in die Höhe jagt. An einem gesunden Selbstbewusstsein mangelt es ihnen auch nicht. Ausgerechnet im armen Berlin werben sie auf BVG-Bussen mit: »Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?« Eine gesunde Demut vor der Hauptstadt haben sie nicht, obwohl auf eines der Plakate der Buskampagne der Zusatz gesprayt war: »Dann finden Sie es in Berlin noch schöner!«
Der Prenzlauer Berg, wenn nicht schon ganz Berlin, ist von Schwaben unterwandert. Mit rund 200.000 stellen sie in Berlin die zweitgrößte Minderheit nach den Türken (140.000). Nur kann man sie rein optisch nicht sofort erkennen. Sie sind hier schon so heimisch geworden, dass ich einmal mitbekam, wie sich ein junger Mann in der vollen S-Bahn aufregte, indem er sagte: »Die Scheißtourischte hier bei uns!«
In der Schönhauser Allee bekam ich einmal ein Gespräch unter alteingesessenen Prenzlbergern mit.
»Früher war alles viel schöner im Prenzlauer Berg!«, sagte der eine.
»Ja! Da hascht recht!«, entgegnete ihm der andere.
»Seit wann lebst du schon hier?«
»Seit einem halben Jahr!«, antwortete er.
Willkommen in Schwabylon, dachte ich nur, im bezaubernden Stuttgart an der Spree.
Die Schwaben sind angekommen, ohne sich von ihren kulturellen Gepflogenheiten zu verabschieden. Da soll mir jemand noch einmal erzählen, dass sich die Ausländer nicht integrieren wollen, oder vor einer zunehmenden Islamisierung in Deutschland warnen.
Die Häuslebauer nehmen den Berlinern nicht nur den
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