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Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)

Titel: Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Hyun
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fasziniert von den Karaokeabenden mit Vater, an die er sich trotz seines Kurzzeitgedächtnisses noch sehr gut erinnerte. Um im Kreis der Familie anzukommen, musste man Vater ein Lied vorsingen. Nur gute Sänger bekamen einen Recall. Unser deutscher Freundeskreis blieb deshalb immer beschaulich klein.
    Ich erinnere mich noch sehr genau an jenen 9. November 1989. Mein Freund Min-sik und seine Eltern waren zu Besuch. Während Min-sik und ich in meinem Zimmer herumtobten, saßen unsere Eltern im Wohnzimmer. Ohne ein Wort zu wechseln, verfolgten sie gespannt die Nachrichten im Fernsehen. Im Raum herrschte eine Stille, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Ich war zu jung und politisch uninteressiert, um zu verstehen, was für historische Ausmaße jener 9. November für uns alle haben würde.
    In der Schule lernte ich nichts über die Prozesse der Wiedervereinigung. Dafür lernte ich im Musikunterricht die dritte Strophe der Nationalhymne. Aber Anlässe, die Hymne zu singen, gab es wenige. Die Gesellschaft war noch nicht so weit zu begreifen, dass ein Koreaner die deutsche Nationalhymne laut mitsingen konnte. Zu diesem Zeitpunkt hätte man diese Geste noch als alles andere als schmeichelhaft gewertet. Ganz anders mein bosnischstämmiger Freund Adnan. Adnan war in der Bundeswehr bei den Fallschirmjägern und im deutsch-niederländischen Korpsstab. Seine Kameraden nannten ihn »Sushi«, weil sie seinen bosniakischen Nachnamen »Suceska« nicht aussprechen konnten. Dafür konnte Adnan, wie er sagte, nicht »deren« Hymne singen – und bekam von seinem Leutnant trotz Hinweis auf seinen bosnischen Hintergrund eine Standpauke verpasst. Später hatte Adnan sein Aha-Erlebnis mit den ostdeutschen Kameraden, die unwissend die erste Strophe vortrugen. Anstatt eines Anschisses vom Leutnant gab es nur eine sanfte Belehrung und den Hinweis, die erste Strophe sei in Deutschland nicht mehr erlaubt. Aber auch Günther Öttinger, Heino und Liedermacher Stephan Krawcyk passierte es schließlich, dass sie »Deutschland, Deutschland über alles« sangen. Bei der Fülle an Strophen kann man sich schon mal in der Zeile vertun.
    Seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Lande unter dem Motto »Die Welt zu Gast bei Freunden« zeigen die Menschen, auch jene mit Migrationshintergrund, Flagge. Ich vermute, dass die Türken, die vor den Kameras enthusiastisch die deutsche Flagge schwenkten, von der Regierung bezahlt wurden, so wie die Nordkoreaner chinesische Zuschauer für die WM in Südafrika kauften, um eine synthetische Fangemeinschaft herzustellen. Hinter den Kopftuch tragenden Mädchen vermute ich erfolglose einheimische Models, die darauf hofften, in einem namhaften Magazin abgelichtet zu werden, um so ihrer Karriere neuen Schwung zu verleihen. »Die Welt zu Gast bei Freunden«, dieser Slogan wurde von einem bestimmten Etablissement missbraucht und kurzerhand zu »Die Welt zu Gast bei Freundinnen« umgewandelt. Supermärkte verkauften Flaggenmasten und dazu jedes nur denkbare Zubehör, um die Deutschlandflagge adäquat der Öffentlichkeit zu präsentieren. So stolz hatte man sich hier noch nie gezeigt. Die Zeiten haben sich geändert.
    Parallel zur deutschen Wiedervereinigung feierte die Sesamstraße ihr 40-jähriges Jubiläum. Samson und Co. haben weite Wege meiner Kindheit begleitet. Ich konnte mich in gewisser Weise mit den bunten und exotischen Charakteren identifizieren. Der gelbe Riesenvogel Bibo, Kermit der Frosch, der obdachlose Griesgram Oskar, die in eingetragener Partnerschaft lebenden beiden Ernie und Bert, der braune Drogendealer Samson, der ständig an seinem Tuch schnüffelte, und die alleinerziehende Monsterfigur Moni zeigten mir schon als Kind ein Abbild der Gesellschaft.

VERÄNDERUNGEN
    V iktor Zoi , der einstige Leadsänger der Band Kino, hatte koreanische Wurzeln und ist eine russische Rocklegende. Zwei Jahrzehnte nach seinem frühen Tod wird Zoi in seinem Heimatland Russland immer noch verehrt wie Jim Morrison in der westlichen Welt. Schon lange vor Glasnost und Perestroika schrieb Zoi regimekritische Lieder. »Veränderungen! ist die Forderung unserer Herzen. Veränderungen! ist die Forderung unserer Augen. In unserem Lachen, in unseren Tränen und im Puls der Adern Veränderungen! Wir wollen Veränderungen!«, heißt es in einem Lied von 1986 über die Sehnsucht der Menschen nach einem gesellschaftspolitischen Sinneswandel.
    Mein Bekannter Jun Choi erfuhr solch eine Veränderung in seinem Leben. Als

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