Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
in das Land, wo der Yalu fließt, zurückzukehren. Seine vier älteren Geschwister waren lange verstorben, und das Verhältnis zu den Hinterbliebenen war zerrüttet. Einzig zu Daegu-Hjeong pflegt Vater Kontakt. Daegu-Hjeong ist der Sohn von Vaters Schwester. Vater hatte ein sehr enges Verhältnis zu seiner Schwester. Ihren Tod hat Vater bis heute nicht verkraftet. Wenn Vater von seiner Schwester erzählt, dann ist seine Stimme mit enormer Traurigkeit erfüllt. Vater hat nie vergessen, was seine Schwester für ihn getan hatte. Damit Vater zur Schule gehen und sein Abitur machen konnte, verzichtete sie auf ihre Weiterbildung. Die Schwester verkaufte Gemüse auf der Straße, um mit dem Geld Vaters Schulgebühren zu bezahlen.
Vater hat seinen Vater und seinen ältesten Bruder während des Krieges verloren. Er war gerade 11 Jahre alt, als der Korea-Krieg im Juni 1950 ausbrach. In einer Zeit, die Träume nicht zuließ, träumte Vater von einem Studium im Bankwesen. Den Eingangstest für die Zulassung zum Studium bestand Vater ohne Probleme. Stolz präsentierte Vater den Bescheid. Statt in Freude brach die Mutter in Tränen aus. Es waren süße Tränen des Stolzes, aber auch bittere Tränen der Verzweiflung. Vater trocknete die Tränen seiner Mutter und seiner Schwester und nahm beide in den Arm. Die Zeit und die Umstände waren gegen Vaters Pläne. Ohne Vater aufgewachsen, musste Vater früh lernen, erwachsen zu werden. Er wollte sich seinem Schicksal nicht einfach ergeben. Aufgeben war nicht sein Weg. Das lehrte ihn das Leben früh genug.
In einer Nacht- und Nebelaktion packte Vater sein weniges Hab und Gut in einen Kleidersack und kehrte seiner Mutter und seiner Schwester für immer den Rücken. Er wischte seine Tränen vom Gesicht, die er seiner Mutter und Schwester nicht zeigen wollte. Ein letztes Mal schaute Vater nach seiner schlafenden Mutter und Schwester. Dann richtete er seinen Blick nach vorn und begann seinen Weg in einer dunklen Daegu-Nacht allein zu gehen.
Vater meldete sich bei der koreanischen Armee an. Mit dieser Entscheidung verabschiedete sich Vater endgültig von seiner Jugend. Er war nun ein richtiger Mann.
Vater ist 21 Jahre alt, als er erlebt, wie der Militärgeneral Park Chung-hee durch einen Staatsstreich die korrupte Regierung Rhee Syng-mans stürzt. Park, ein einfacher Bauernsohn, der während der japanischen Kolonialzeit in der japanischen Armee diente, regiert Korea mit eiserner Hand. Vater wollte der Armee dienen, bis sich eine andere Möglichkeit ergab. Für Vater ging es nicht um politische Ideologien, sondern ums nackte Überleben.
Zeitungsannoncen und Radioaufrufe, die Bergarbeiter für Westdeutschland suchten, kamen für Vater wie vom Himmel gerufen. Diesen Rufen aus dem fernen Okzident, aus einem Land, das geteilt war wie seine Heimat und in dem man Pferdefleisch isst, konnte Vater nicht widerstehen. 1969 ist Vater 30 Jahre alt, als er sich gemeinsam mit anderen Landsmännern und einem Koffer in das Flugzeug setzt und den fast 24-stündigen Flug nach Westdeutschland antritt. Der Kalte Krieg verbietet es, mitten durch die Sowjetunion zu fliegen.
Korea ist seit 16 Jahren ein geteiltes Land. Die Euphorie und die Sehnsucht nach einem Neuanfang in einem völlig fremden Land überwiegen gegenüber der Angst, unter der Erde, in einem noch nie zuvor ausgeübten Beruf zu arbeiten. Die koreanischen Männer wurden für den deutschen Bergbau rekrutiert. Westdeutschland ist kein Schlaraffenland, das lernt man als koreanischer Kumpel schnell unter Tage. Auch dort gönnt das Leben Vater keine Verschnaufpause. Die starke Deutsche Mark, die man in die Heimat überweist, um der Familie zu helfen, lässt das Heimweh vergessen.
Inzwischen sind vier Jahrzehnte vergangen. Viele von Vaters Freunden sind nach Korea zurückgekehrt. Manche sind nach Amerika ausgewandert. Mit dem Betreten von deutschem Boden stand für Vater fest, dass es von nun an keinen Weg zurück mehr in das Land der Morgenstille gab.
Im Jahr des Ochsen 2009 feierte Vater seinen 70. Geburtstag nach gregorianischem Kalender. Seit Vater in Deutschland lebt, geht er nicht mehr nach dem Lunisolarkalender. Vater ist in die Jahre gekommen. Durchs Kettenrauchen ist Vater sehr dünn geworden. Er passt in meine alten Jeanshosen Größe 28, die ich in der Mittelstufe trug. Sein Gesicht ist schmaler geworden und mit Sorgenfalten übersät. Die Tage als Bergarbeiter liegen Jahrzehnte zurück. Aus diesen Tagen existieren viele Bilder, in denen
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