Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Vater jung und dynamisch aussieht. Vater ist seit längerem sehr melancholisch und bläst täglich Trübsal. Er denkt zu viel nach, über unsere Zukunft, über Mutters Gesundheit, über sich. Dabei steht er jeden Morgen gegen fünf Uhr auf. Er geht die Treppen runter. Sein Weg führt ihn direkt in die Küche. Er bereitet den Kaffee vor, nimmt seine ASS-Tabletten zur Blutverdünnung ein, die er seit einem Schlaganfall nehmen muss, setzt sich im Schneidersitz auf den Küchenstuhl und zündet sich eine Zigarette an. Das ist sein allmorgendliches Ritual. Er muss sich vorkommen wie Bill Murray im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«.
Vater ist Jahrgang 1939. Diese Generation musste noch sechs Jahre japanische Besatzung erdulden. Erst die zweite Atombombe auf Nagasaki am 9. August 1945 führte zur bedingungslosen Kapitulation Japans und brachte das Ende des Zweiten Weltkrieges. Damit war Korea von den kolonialen Fesseln Japans befreit. Diese Zeit hat Vaters Generation geprägt und traumatisiert. Seit die Koreaner in Deutschland leben, gedenken sie an jedem 15. August des Jahres mit einer großen Feier der Unabhängigkeit, »Pari-oh-Haengsa«.
Die Freiheit währte nicht lange im Land. Korea wurde nun Spielball der Weltmächte und war ein kleiner Shrimp, eingekesselt zwischen zwei hungrigen Walen, China und Japan. Auch heute noch benutzt Vater vereinzelt japanische Wörter, wenn er mit uns Kindern auf Koreanisch spricht. Einige dieser Ausdrücke hatte ich von Vater adaptiert, ohne zu wissen, dass es sich um japanische Vokabeln handelte.
Nach seiner Bergarbeitertätigkeit arbeitete Vater als Krankenpfleger, bis er schließlich beim Stahlkonzern Thyssen Edelstahl als Vorarbeiter unterkam. Vater gehört zu den koreanischen Arbeitsmigranten, die den Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges und den Beginn der Globalisierung nicht gut überstanden haben. Sie waren gleich die Ersten, wie die türkischen Gastarbeiter, die ihre Arbeitsplätze verloren und von heute auf morgen in der Gesellschaft überflüssig wurden. Stillschweigend nahm man die neue Situation in Kauf. Die koreanische Tradition und Kultur verbieten jegliches Aufbegehren gegen Vorgesetzte. Man war Gast in diesem Land. Die Begriffe »Neoliberalisierung« und »Rationalisierung« waren für Vater fremd, so wie für viele andere seiner Landsmänner und Weggefährten. Die Verantwortlichen nahmen sich nicht die Zeit, ihnen die Begriffe zu erklären. Sollten sie für die sowieso zur Rückkehr bestimmten Gäste diese wertvolle Zeit aufbringen? An der Situation hätte es nichts mehr geändert.
Die Wegrationalisierung ihrer Arbeitsstellen, die in einer neuen Zeitepoche überflüssig geworden waren, beschenkte die Hinterbliebenen mit sehr viel Zeit. Zeit zum Weiterverschenken, Zeit zum Trödeln, Zeit zum Hadern und vor allem Zeit, über Wichtiges und Unwichtigeres nachzudenken. Der Zug in die Heimat war längst abgefahren. Man war nicht mehr Anfang zwanzig, wo man noch offen ist, Neues auszuprobieren. Längst hatte man eine Familie gegründet und eine neue Existenz in Deutschland aufgebaut.
Als Halbwaise und trotz der Erziehung durch Frauen ist Vater in einer anachronistischen und strikt patriarchalischen Kultur aufgewachsen. Dort waren die Rollen zwischen Frau und Mann klar verteilt. Der Mann brachte das Brot mit nach Hause. Die Frau kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Die Autorität und Würde des Mannes blieben in der Familie unangetastet. Diese alten Wertvorstellungen brachte Vater mit nach Deutschland. Nach seiner ungeplanten Frühpensionierung fühlte sich Vater nutzlos. Er schämte sich dafür, dass er seiner Vaterrolle, so wie er sie in Korea erfahren hatte, nicht gerecht werden konnte.
Ich werde wohl nie zu 100 Prozent nachfühlen können, was in Vater vor sich geht. Koreanische Väter sind in der Hinsicht mysteriös. Zwischen Vater und Sohn wirkt eine gewisse Ying- und Yang-Beziehung. Es besteht eine große emotionale Abhängigkeit, und die Liebe zum Sohn wird oft durch Zwang und Autorität gezeigt. In Deutschland geboren und aufgewachsen, fiel es mir sehr schwer, diese alte koreanische Sichtweise zu verstehen. Erst während meines Studiums begann ich, Verständnis zu entwickeln für die Art und Weise, wie Vater sich gibt.
»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen«, schrieb einst Theodor Fontane. Als ich mit 18 Jahren in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ging, bekam ich einen kleinen Einblick darin, wie es wohl
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