Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
Mutter und Vater in Deutschland ergangen war und vielleicht immer noch ergeht. Ist Heimat wirklich dort, wo man sich wohlfühlt oder sein Herz hat? Ist Heimat nicht ein ungreifbarer Traum? Für Vater mag Heimat ein abstrakter Begriff sein. Genau weiß ich es nicht. Aber Heimat bleibt eben Heimat, schon deswegen, weil die Luft, die man atmet, von Grund auf verschieden ist. Sogar unsere Colliehündin Ära, die in Kiel geboren wurde, konnte ihre Heimatluft von der einer anderen Umgebung unterscheiden. Wenn man so lange wie Mutter und Vater in einer Fernbeziehung zur Heimat lebt, dann verblassen irgendwann die Erinnerungen. Der Duft der heimischen Luft entweicht aus den Körpern, und die Träume über die Geburtsorte werden schrittweise weniger, bis sie einem schließlich ganz entfliehen. In der Anfangszeit denkt man wahrscheinlich täglich an seine Heimat. Vielleicht sind es Hunderte von Gedanken über den Tage verteilt, die man seiner alten Heimat widmet. Doch mit der Zeit werden aus den einhundert täglichen Gedanken neunzig, achtzig, siebzig. Und mit jedem neuen Tag, Monat und Jahr wird die Zahl der Gedanken an die Heimat weniger, bis man vergisst, sie zu zählen. Wenn man an diesen Punkt gelangt ist, dann spielen einem die Gedanken verrückt. Die schönen Lieder, die man einst sang, und die witzigen Geschichten, die man sich gegenseitig erzählte, geraten Vers um Vers in Vergessenheit. Das Gesicht der Mutter und der Geschwister, die man so oft sah, verlieren ihre Konturen. Irgendwann wundert man sich, wie deren Stimme einst in den Ohren klang. Die Dinge, die man einst verspeiste, verlieren an Geschmack, und die Orte, wo man als Kind spielte, verlieren an Lebendigkeit. In ihrem neuen Land, das sich sehr schwertat einzugestehen, ein Einwanderungsland zu sein, war es nicht sonderlich leicht für Mutter und Vater, sich zuhause zu fühlen. Mutter und Vater, so wie viele andere ihrer Landsleute, sind bis heute in Deutschland nicht heimisch geworden. Das ist gelebter koreanischer Alltag in der neuen Heimat.
Während seiner Schulzeit war Vater ein begeisterter Boxer. In Deutschland gab er türkischen und spanischen Migranten, wie Jesus und Mahmut, Taekwondo-Unterricht. Zu der Zeit war Vater in der Blüte seiner körperlichen Verfassung, aber auch da schon immer mit der Kippe in der Hand.
Heute vertreibt sich Vater die meiste Zeit damit, Gerichtssendungen und Homeshopping-Kanäle im Fernsehen anzuschauen. Er liebt Samstage, da dann die Samstagszeitung mit den vielen Werbeprospekten und die koreanische Zeitung Kyoposhinmun nach Hause kommen. Nicht selten geschieht es, dass Vater meine Schwester darum bittet, etwas für ihn aus den Homeshopping-Kanälen zu bestellen. In einem Augenblick ist es der Gitarreninstrumentalist Hans Lingenfelder alias Ricky King und im nächsten der holländische Violinist André Rieu, die Vaters Herz höher schlagen lassen.
Es gab Zeiten, als Vater noch traditionelle koreanische Gesellschaftsspiele wie Go-Stop spielte, ein Kartenspiel mit vielen schönen Blumenmustern. Aber diese Zeiten sind vorbei. An Sonntagen fährt Vater zur koreanischen Kirchengemeinde nach Düsseldorf. Dort trifft er sich mit seinem Freund Herr Choi. Herr Choi ist mit der ersten Welle koreanischer Bergarbeiter 1965 nach Deutschland gekommen. Die Familien pflegen ein sehr familiäres Verhältnis. Diese enge Verbindung, ohne wirklich Familie zu sein, gab Mutter und Vater oft Obdach an regnerischen Tagen.
Meine Geschwister Julia, Simone und ich hegten schon lange den Plan, Vater nach Korea zu schicken. Bislang scheiterte es immer am Finanziellen. Das Haus muss abgezahlt werden, ebenso wie die Kredite, die für unser Auslandsstudium aufgenommen wurden. In seinen bedrückten Phasen sagte Vater manchmal Dinge, die mich sehr traurig stimmten. Meine Traurigkeit kann ich vor Vater gut verstecken.
»Wenn ich nach Korea fliege, dann wird das wohl mein letztes Mal sein. Ich werde die Gräber meiner Mutter und meines Vaters pflegen. Per Video möchte ich für euch meinen Lebensweg aufzeichnen. Es ist wichtig, dass ihr die Gräber eurer Großeltern kennt und dass ihr sie später pflegt. Das sind eure Wurzeln. Vergesst sie niemals!«, sagte Vater auf Koreanisch.
»Du musst noch deine Enkelkinder kennenlernen und auf sie aufpassen!«, erwidere ich in solchen Momenten auf Deutsch.
Das ist der Augenblick, in dem Vater mir den Vogel zeigt und auf Koreanisch sagt: »Euch großzuziehen hat mir schon gereicht! Ich bin nur dann bereit, auf
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