Ohne Gnade
Ecken drängten sich Schatten heran, fielen über lange, schmale Schreibtische und erzeugten in ihr ein unbestimmtes, grundloses Unbehagen.
Durch die Mattglasscheibe des Büros nebenan nahm sie undeutliche Bewegungen wahr, hörte leise Stimmen. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür. Ein massiger, grauhaariger Mann Mitte Vierzig winkte ihr.
»Chefinspektor Grant ist jetzt frei, Miß Fleming.«
Sie stand auf und betrat mit schnellen Schritten das Zimmer. Es lag halb im Dunkeln. Nur eine Lampe mit grünem Schirm auf dem Schreibtisch gab Licht. Ein paar Karteischränke und eine große Stadtkarte an der Wand vervollständigten die Einrichtung.
Grant war längst darüber hinaus, Müdigkeit bewußt spüren zu können, aber unablässiger Schmerz hinter einem Auge und ein schwaches, nicht zu unterdrückendes Frösteln schienen anzukündigen, daß auch ihn die asiatische Grippe erwischt hatte, durch die fast ein Fünftel aller Beamten auf die Krankenliste geraten war.
Er zog eine Schublade heraus, nahm zwei Schmerztabletten aus einer Schachtel und schluckte sie mit Wasser. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete seine Besucherin.
Sieben- oder achtundzwanzig, schwarzhaarig, hübsch. Der Wildledermantel hatte mindestens vierzig Pfund gekostet, und die knielangen Stiefel schienen aus echtem Leder zu sein.
Sie setzte sich auf den Stuhl, den Brady gebracht hatte, und schlug die Beine übereinander, bevor sie ihn anlächelte.
»Sie erinnern sich nicht an mich, Mr. Grant?«
»Sollte ich das?«
Er runzelte die Stirn. Fleming – Jean Fleming. Er schüttelte den Kopf und erwiderte ihr Lächeln. »Wahrscheinlich werde ich alt.«
»Ich bin Bella Garvalds Schwester.«
Das Stichwort genügte. Ben Garvald und der Raubüberfall auf das Stahlwerk. Acht, nein, neun Jahre lag das zurück. Sein erster großer Fall als Chefinspektor. Er erinnerte sich wieder an das Haus in der Khyber Street, an Bella Garvald und ihre junge Schwester.
»Sie haben sich verändert«, sagte er. »Damals gingen Sie doch noch auf die höhere Schule und wollten studieren. Was wollten Sie werden – Lehrerin, nicht wahr?«
»Das bin ich auch geworden«, erwiderte sie.
»Hier in der Stadt?«
Sie nickte.
»Privatschule Oakdene.«
»Miß Van Heflins alte Schule? Sie lag in meinem Revier, als ich bei der Polizei anfing. Ist sie denn immer noch im Beruf? Sie muß doch mindestens siebzig sein.«
»Vor zwei Jahren hat sie sich zur Ruhe gesetzt«, erklärte Jean Fleming. »Die Schule gehört jetzt mir.«
Sie brachte es nicht fertig, den Stolz ganz aus ihrer Stimme zu verbannen.
»Ein weiter Weg von der Khyber Street«, meinte Grant. »Und was macht Bella?«
»Sie ließ sich von Ben kurz nach seiner Verurteilung scheiden. Voriges Jahr hat sie wieder geheiratet.«
»Jetzt fällt es mir wieder ein, Harry Faulkner. Gute Partie.«
»Stimmt«, sagte Jean Fleming. »Und ich möchte vermeiden, daß ihr das verdorben wird.«
»Wieso?«
»Ben«, sagte sie nur. »Er ist gestern entlassen worden.«
»Sind Sie sicher?«
»Er hätte eigentlich schon voriges Jahr auf Bewährung freikommen müssen, war aber vor einigen Jahren an einem Fluchtversuch beteiligt.«
»Sie glauben, daß er Schwierigkeiten machen wird?«
»Er wollte schon die Scheidung nicht hinnehmen. Deshalb unternahm er ja den Ausbruchsversuch. Er erklärte Bella, er werde sie niemals einem anderen Mann überlassen.«
»Hat sie ihn nie besucht?«
Jean Fleming schüttelte den Kopf.
»Es hätte keinen Sinn gehabt. Ich war im vergangenen Jahr bei ihm, als sie sich mit Harry einig geworden war. Ich erklärte Ben, daß sie wieder heiraten würde und es nutzlos sei, sie noch einmal zu belästigen.«
»Wie reagierte er?«
»Er war außer sich. Ich sollte ihm sagen, wer der Glückliche sei, aber ich weigerte mich. Er schwor, sie nach seiner Entlassung aufzusuchen.«
»Weiß Faulkner etwas davon?«
Sie nickte.
»Ja, aber er macht sich keine Gedanken. Nach seiner Meinung wird es Ben nicht wagen, sich hier noch einmal zu zeigen.«
»Wahrscheinlich hat er recht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Vor ein paar Tagen bekam Bella einen Brief. Eigentlich war es nur ein Zettel. Die Nachricht war ganz kurz: ›Auf bald – Ben.‹«
»Hat sie ihn ihrem Mann gezeigt?«
»Nein. Ich weiß, daß es albern klingt, aber er hat Geburtstag, und sie geben heute abend eine Party. Dauert die ganze Nacht. Tanz, Vorführungen,
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