Ohne jede Spur
«Charlie» im Kofferraum verstecken, sich ein Sportjackett anziehen und eine Brille mit dicken Gläsern und schwarzem Gestell aufsetzen, einen auf Geschäftsmann machen, der über die Grenze will, um sich die Augen lasern zu lassen. Für die Grenzbeamten eine ganz alltägliche Sache.
Wenn sie erst einmal in Kanada wären, hätten sie’s geschafft. Weites Land und dichte Wälder. In irgendeiner Kleinstadt würden sie neu anfangen können, außer Reichweite für Max und weit weg von der Bostoner Polizei.
Ree hätte sich bestimmt schnell an ihren neuen Namen gewöhnt und er vielleicht eine Anstellung als Verkäufer in einem Supermarkt.
Das würde so über Jahre gutgehen können, vorausgesetzt, er verzichtete aufs Internet.
Sandy war schwanger.
Er musste etwas unternehmen.
Aber er wusste nicht, was.
Er konnte nicht weglaufen. Noch nicht. Das war ihm schnell klar. Er musste sich jetzt vor allem um Ree kümmern. Um sie drehte sich alles. Aber er wollte auch wissen, was Sandy passiert war – vielleicht hatte sie gar keine Affäre gehabt? Ihm schien es, als hätte ihm das Schicksal in den vergangenen achtundvierzig Stunden den Boden unter den Füßen weggezogen. Und jetzt lockte es den Esel mit einer Karotte.
Vielleicht war er tatsächlich Vater.
Oder aber Sandy hasste ihn letztlich abgrundtief.
Wenn er nicht weglaufen konnte, brauchte er einen Computer. Er brauchte seinen Computer und musste herausfinden, was Sandy getan hatte. Wie viel hatte ihr der dreizehnjährige Ethan beigebracht?
Zum Glück befand sich der Familiencomputer sicher versteckt in der Redaktion der
Boston Daily
. Aber wie sollte er ihn zurückholen? Die Polizei würde jetzt besserauf ihn aufpassen, und wahrscheinlich hätte er auch zwei oder drei Reporter auf den Fersen. Allein seine Anwesenheit in der Redaktion würde Argwohn erregen. Wieso ging der trauernde Ehemann zur Arbeit, und das zwei Nächte in Folge?
Wenn Ethan Hastings auspackte und sich für die Polizei der Verdacht gegen ihn, Jason, erhärtete, würde sie auch die Computer der
Boston Daily
durchsuchen. Was hatte Sandy herausgefunden? Wie viel wusste sie, ohne ihn auf das Thema angesprochen zu haben? Sie hätte doch entsetzt sein müssen. Wütend. Voller Angst und Ekel.
Aber es war kein einziges Wort von ihr zu hören gewesen.
Hatte sie zu dem Zeitpunkt schon eine Affäre gehabt? Lief alles darauf hinaus? War das, was sie ausfindig gemacht hatte, nur der äußere Anlass gewesen, mit ihrem Liebhaber durchzubrennen? Und sie wusste bereits, dass sie schwanger war. Von ihm? Von dem anderen Mann? Hatte sie den anderen vielleicht verlassen wollen, worauf es zum Streit gekommen und sie von ihm entführt worden war?
Womöglich hatte Sandy in der Nacht auf Donnerstag mit ihrem neuerworbenen, von Ethan Hastings vermittelten Wissen Jasons Computerdateien entdeckt und feststellen müssen, dass sie das Kind eines Monsters im Leib trug. Und … was dann? War sie etwa blindlings davongerannt, ohne Handtasche, ohne sich vorher umgezogen zu haben? Hatte sie das ungeborene Kind retten wollen, indem sie das andere im Stich ließ?
Das ergab keinen Sinn.
Unweigerlich kam Jason in seinen Spekulationen auf den Schüler Ethan Hastings zurück. Vielleicht war es zwischen ihm und Sandy tatsächlich zu Intimitäten gekommen. Vielleicht hatte sie ihm zu erklären versucht, dass es ein Fehler von ihr gewesen war, sich mit ihm einzulassen, was der Junge nicht verkraften konnte, nicht nach all den vielen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, um ihren Ehemann auszutricksen. Also war Ethan mitten in der Nacht zu ihr gegangen und …
Der jüngste Killer in der Geschichte der USA war im zarten Alter von zwölf Jahren wegen zweifachen Mordes verurteilt worden. Ethan Hastings würde also mit seinen dreizehn Jahren ebenfalls strafmündig sein und des Mordes angeklagt werden können. Allerdings gab der Tathergang einige Rätsel auf. Wie war der Junge zum Haus gelangt? Mit dem Fahrrad? Zu Fuß? Wie hätte dieses schwächliche Bürschchen die Leiche einer erwachsenen Frau verschwinden lassen können? Hatte er sie bei den Haaren aus dem Haus gezogen und über die Lenkstange geworfen?
Jason setzte sich an den Küchentresen. Ihm schwirrte der Kopf. Er war müde, hundemüde. In diesem Zustand musste er sich ganz besonders in Acht nehmen. Er durfte nicht zulassen, mit seinen Gedanken auf Abwege zu geraten, die ihn schließlich zu einem Raum führten, in dem es immer nach frisch umgegrabener Erde und
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