Ohne jede Spur
ihnen trieft schon fast der Geifer aus den Lefzen.
Am Nachmittag hat mich Wendell angerufen, der blöde Blitzer aus der Therapiegruppe. Wir dürfen eigentlich keinen persönlichen Kontakt untereinander haben, aber ich wette, Wendell hat irgendeinen Armleuchter bestochen, um an meine Nummer zu kommen. Er hat die Pressekonferenz gesehen und wollte, dass ich ihm was über die verschwundene Frau erzähle. Nicht, dass er mich für unschuldig hielte, bewahre. Er hat auch nicht etwa angerufen, um mir Hilfe anzubieten. Nein, er wollte Details, wollte ganz genau beschrieben wissen, wie Sandra Jones aussieht, wie ihre Stimme klingt und wie es sich für mich angefühlt hat, als sie ihren letzten Schnaufer machte. Für ihn steht fest, dass ich sie getötet habe. Was ihn aber nicht weiter juckt. Er wollte nur ein bisschen Stoff für seine Phantasien, die er sich beim Wichsen ausmalt.
Jeder macht sich ein Bild von mir. Davon habe ich die Schnauze voll.
Also gebe ich mir die Kante. Scheiß auf die Bewährungsauflagen. Ich werde ja sowieso wieder eingelocht.Und weil’s nun schon eine kleine Tradition ist, dass ich für Sachen brummen muss, die ich nicht getan habe, bin ich so frei und lasse mich volllaufen. Kein Bier. Ich halte mich gleich an das richtige Zeug.
Maker’s Mark Whiskey. Den hat auch mein Stiefvater immer gesoffen. Am ersten Abend mit Rachel habe ich mich an seinen Vorräten bedient und uns beiden einen riesigen Cocktail mit Limonade gemixt. Was machen zwei gelangweilte Kids nach der Schule, wenn nicht Schnaps von den Eltern klauen?
Ich kaufe zwei Flaschen und renne nach Hause, um keine Sekunde Zeit zu verlieren. Wenn ich schon mal über die Stränge schlage, dann richtig und ausführlich. Nach dem ersten Schluck aus der Flasche huste ich mir fast die Lunge aus dem Hals. Ich bin noch nie ein strammer Trinker gewesen und habe ganz vergessen, wie höllisch Whiskey in der Kehle brennt.
«Leckomio!», krächze ich, bleibe aber standfest und halte mich ran.
Ein Dutzend Schlucke später fühlt sich mein Magen schön warm an, und ich werde schon ruhiger, bin geradezu entspannt. Genau in der richtigen Stimmung für das, was ich nun vorhabe.
Ich gehe in meinen Einbauschrank, werfe alle Klamotten zur Seite und krame meine Blechbüchse hervor, das Ding, auf das Officer Blondie anscheinend gestoßen ist. Sie wird mir deswegen Fragen stellen wollen. Soll sie ruhig.
Ich klemme mir die Büchse, das letzte Überbleibsel meines alten Lebens, unter den Arm und wanke hinausin den Hinterhof. Es ist kalt und dunkel. Ich sollte einen Sweater überziehen. Irgendwas anderes als den weißen Lappen, den ich sonst immer trage. Stattdessen genehmige ich mir noch einen Schluck aus der Pulle. Das geht warm runter bis in die Zehen, yes, Sir.
Ich breche das Schloss auf. Drinnen liegen Notizen. Keine Ahnung, warum Jerry sie nicht weggeworfen hat. Kann auch sein, dass sich Rachel die Büchse geschnappt und in Sicherheit gebracht hat, noch am selben Nachmittag, als die Polizei da war.
Und vielleicht war sie es auch, die mir die Büchse zurückgebracht hat. Ich kam eines Abends von Vitos Werkstatt nach Hause, und, zack, da lag sie, direkt vor der Tür. Unverpackt und ohne Notiz. Nicht mal ’ne Visitenkarte war dabei. Ich bin mir sicher, dass sie es war. Wer hätte es sonst sein sollen? Und ich habe mir ausgerechnet, dass sie jetzt siebzehn ist, alt genug, um sich ans Steuer setzen und von Portland nach Boston fahren zu können.
Vielleicht hat sie meine Adresse auf den Schecks gelesen, die ich Jerry zukommen lasse, und als sie wusste, wo ich wohne, wollte sie mir einen Besuch abstatten, sehen, wie’s mir geht.
Hat sie die Briefe gelesen? Haben sie geholfen zu verstehen, warum ich mich damals so und nicht anders verhalten habe?
Ich habe mir während der ersten Wochen den Inhalt der Büchse immer wieder angesehen und festgestellt, dass die Briefe vollzählig sind, so auch meine albernen Dichtversuche, die Karte, die ich schrieb, als sie Fieber hatte, und all die Verse, die ich zu drechseln versuchthabe, obwohl ich mich mehr um meine Arbeit in der Werkstatt hätte kümmern sollen. Ich habe hoffnungsvoll nach Randnotizen von ihr gesucht, nach Spuren von Lippenstift oder Fettflecken von ihr.
Eines Abends besprühte ich die Briefe mit Zitronensaft, denn ich hatte eine Episode von
MythBusters
gesehen, in der mit Hilfe von Zitronensäure verblichene Tinte wieder sichtbar gemacht wird. Fehlanzeige.
Mir blieb nichts anderes übrig, als auf ihre
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