Ohne jede Spur
beeile, komme ich zu spät zu meiner Sitzung. Das kann ich mir nicht leisten. Also beeile ich mich. In fünf Minuten bin ich geduscht, umgezogen und wieder draußen, wo ich ein Taxi herbeiwinke, damit es mich in die Psychiatrie bringt. Glauben Sie nicht, dass acht Sexualstraftäter ihre wöchentlichen Meetings in der nächstbesten Bibliothek abhalten könnten.
Um 17.59 Uhr stehe ich auf der Matte. Das ist wichtig. Ich habe mich vertraglich dazu verpflichtet, absolut pünktlich zu sein, und unsere Gruppenleiterin achtet pedantisch darauf, dass dem so ist. Mrs Brenda Jane ist diplomierte Sozialarbeiterin, sieht aus wie ein übergroßes blondes Covergirl und gibt sich wie eine Gefängniswärterin. Sie kontrolliert jede Facette unseres Lebens, was wir tun oder nicht trinken, mit wem was unternehmen oder sein lassen. Die Hälfte von uns kann sie nicht leiden, die andere ist ihr extrem dankbar.
Jede Sitzung dauert ungefähr zwei Stunden. Zu den wichtigsten Aufgaben, die ein registrierter Sexualstraftäter gleich zu Anfang seiner Therapie erfüllen muss, zählt die Bewältigung von Papierkram. Ich habe drei Ordner voller Dokumente wie beispielsweise den von mir signierten «Vertrag zur Teilnahme am Programm für Sexualstraftäter», den speziell auf meine Person zugeschnittenen «Resozialisierungsplan» sowie ein halbes Dutzend Kataloge über die «Regeln für Gruppensitzungen», «Regeln für persönliche Kontakte/Beziehungen», «Regeln zur Konfliktbewältigung» et cetera pp. Auch heute beginnen wir wieder damit, unseren Wochenbericht abzufassen.
Frage eins:
Wie haben Sie sich in dieser Woche gefühlt?
Als Erstes kommt mir das Wort «schuldig» in den Sinn. Mein zweiter Gedanke ist, dass ich das nicht aufschreiben kann. Erklärungen, die in einer Gruppensitzung abgegeben werden, haben keinen Anspruch auf Vertraulichkeit. Auch das musste ich unterschreiben. Alles, was ich heute oder wann auch immer von mir gebe, kann gegen mich verwendet werden. Noch so ein Paradox, mit dem ein Sexualstraftäter tagtäglich konfrontiert ist: Einerseits wird Ehrlichkeit verlangt, andererseits kann man jederzeit genau dafür belangt werden.
Ich schreibe auf, was mir als Zweites in den Sinn kommt – «bedroht». Ist doch verständlich, oder? Eine Frau verschwindet, und ich, der in ihrer Nachbarschaft wohnt, bin ein überführter Sexualstraftäter. Klar, dass ich mich bedroht fühle.
Frage zwei:
Wie haben Sie in dieser Woche schwierige Situationen gemeistert? Nennen Sie fünf Interventionen
.
Diese Frage ist leicht. Bei der allerersten Gruppensitzung bekommt man eine Liste von ungefähr hundertvierzig Ratschlägen für sogenannte Interventionen, die geeignet sind, aus dem Teufelskreis sexuellen Missbrauchs auszubrechen. Die meisten von uns haben sich anfangs darüber kaputtgelacht. Hundertvierzig Tipps, um nichtwieder rückfällig zu werden? Zu den besten Lachnummern zählt die Empfehlung, die Polizei anzurufen oder kalt zu duschen. Mein persönlicher Favorit ist der Sprung ins Meer mitten im Winter.
Ich antworte wie gewöhnlich: Bin Kindern aus dem Weg gegangen, habe mich von Kneipen ferngehalten, bin nicht ziellos in der Gegend herumgefahren, habe keine allzu hohen Erwartungen in mich gesetzt und ein Gummiband am Handgelenk getragen, um mich bei Bedarf damit zu zwicken.
Manchmal schreibe ich «kein Selbstmitleid zugelassen», aber das ist mir in dieser Woche beim besten Willen nicht geglückt. Eine, wie ich finde, hübsche Alternative ist die Formulierung «keine allzu hohen Erwartungen». Die habe ich schon seit Jahren nicht mehr.
Frage drei:
Was haben Sie in dieser Woche unternommen, um gesund zu leben? Nennen Sie fünf Interventionen
.
Auch darauf habe ich meine Routineantworten: Vollzeit gearbeitet, Sport gemacht, von Drogen und Alkohol die Finger gelassen, reichlich Muße gepflegt und eine ruhige Kugel geschoben. Nun, vielleicht war Letzteres heute nicht der Fall, an den vergangenen sechs Tagen aber schon, und es geht ja darum, einen Wochenbericht abzuliefern.
Frage vier:
Hatten Sie in dieser Woche unangemessene oder verwerfliche Bedürfnisse, Phantasien oder sexuelle Wünsche? Schildern Sie diese im Einzelnen.
Ich schreibe:
Ich habe mir vorgestellt, mit einer gefesselten und geknebelten erwachsenen Frau Sex zu haben
.
Frage fünf:
Wie erklären Sie sich diese Bedürfnisse, Phantasien oder sexuellen Wünsche?
Ich schreibe:
Ich bin dreiundzwanzig, lebe wie ein Mönch und bin geil bis zum Anschlag
.
Nach
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