Ohne jede Spur
angenehmen Art.»
Miller verdrehte die Augen.
D. D. führte ihre Theorie weiter aus: «Sandras Mann arbeitet nachts. Sie ist also viel allein mit ihrem Kind, manchmal wahrscheinlich draußen im Hof, und dann kommt Aidan vorbei und plaudert mit ihr. Möglich, dass aus der Plauderei mehr wird …»
«… und sie mit ihm durchbrennt?», ergänzte Colleen.
«Vielleicht kommt es auch zum Streit. Sie hat von seiner Vorgeschichte erfahren und macht ihm Vorwürfe. Vielleicht unterstellt sie ihm, auf ihre Tochter scharf zu sein, und die ist, wie wir wissen, ihr Ein und Alles.»
«Darum bringt er sie um», folgerte Colleen mit ironischem Unterton.
«Wie Sie schon sagten, diese Jungs haben eine Heidenangst davor, in den Knast zurückzumüssen.»
«Aidan Brewster verführt die einsame Ehefrau aus seiner Nachbarschaft und tötet sie dann, damit sie ihn nicht verpfeifen kann.»
Jetzt war es wieder D. D., die mit den Achseln zuckte. «Es soll schon seltsamere Motive gegeben haben.»
Colleen seufzte. Sie nahm einen Bleistift zur Hand und ließ das Radiergummiende auf den Schreibtisch klacken, immer und immer wieder. «Na schön. Fürs Protokoll: Ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg. Aidan hat sich einmal auf eine riskante Beziehung eingelassen und eine empfindliche Strafe dafür hinnehmen müssen. Glauben Siemir, wenn er eine Frau wie Sandra Jones draußen in ihrem Hof sieht, wird er auf dem Absatz kehrtmachen und schleunigst das Weite suchen. Er fordert das Schicksal mit Sicherheit nicht noch einmal heraus. Wie dem auch sei, es ist nun leider so, dass eine Frau vermisst wird, die zufällig in derselben Straße wohnt wie unser Unglücksrabe Aidan Brewster. Wir müssen uns wohl oder übel an die Vorschrift halten und ihm auf den Zahn fühlen.»
«Freut mich zu hören.»
Colleen tippte wieder mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. «Wann?»
«So bald wie möglich. Wenn Sandra Jones morgen um neun immer noch nicht aufgetaucht ist, gilt sie offiziell als vermisst. Dann erfährt auch die Presse davon …»
«Und der ganze Rummel geht los.»
«Sie sagen es.»
Colleen schnaubte. «Ich rekapituliere, Sandra Jones ist eine junge, schöne Mutter und Lehrerin.»
«So ist es.»
«Und die Polizei steht unter Druck.»
«Allerdings.»
«Also gut. Sie haben mich überzeugt. Ich werde Brewster noch heute Abend einen Besuch abstatten, mich in seiner Wohnung umsehen und in Erfahrung bringen, was er in letzter Zeit getrieben hat. Mal schauen, ob’s was bringt.»
«Wir begleiten Sie.»
Colleen hielt den Bleistift drohend in die Höhe. «Kommt nicht in Frage», entschied sie.
«Sie sind nicht vom Fach», konterte D. D. «Damit willich sagen, dass Sie nicht befugt sind, Beweise, wenn es denn welche geben sollte, sicherzustellen.»
«Ich könnte Sie anrufen.»
«Und damit Brewster alarmieren.»
«Ich würde mich zusammen mit ihm aufs Sofa setzen und auf Sie warten. Hören Sie, ich bin seine Bewährungshelferin und habe zwei Jahre daran gearbeitet, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Daran, dass er ehrlich auf meine Fragen antwortet. Wenn Sie ihn vernehmen, macht er sofort dicht. Darauf können Sie sich verlassen.»
D. D. presste die Lippen aufeinander, verärgert und frustriert zugleich.
«Er ist ein guter Junge», fuhr Colleen mit ruhiger Stimme fort. «Ich halte ihn für unschuldig, auch wenn Sie damit nichts anfangen können.»
«Hatten Sie es schon einmal mit einem Schützling zu tun, der rückfällig geworden ist?», fragte Miller.
Colleen nickte. «Mit dreien.»
«Waren Sie darauf vorbereitet?»
Pickler seufzte wieder. «Nein», gestand sie leise. «In allen drei Fällen gab es keinerlei Vorzeichen. Mit den Jungs schien alles in Ordnung zu sein. Sie kamen mit dem Druck, unter dem sie standen, gut zurecht. Bis schließlich doch der Druck zu groß wurde. Und dann gab’s kein Zurück.»
10. Kapitel
Geheimnisse haben mich immer schon fasziniert. Ich bin mit einer Lebenslüge groß geworden und wittere deshalb überall Betrug. Da war ein Schüler in meiner Klasse, der selbst an warmen Tagen dicke Sweater trug – er wurde von seinem Stiefvater in aller Regelmäßigkeit windelweich geprügelt. Oder diese ältere Dame, die mit verkniffenem Gesicht und knochigen Schultern in der chemischen Reinigung arbeitet – sie wird von ihrem widerlichen Sohn, der draußen vor der Tür rumlungert, aufs übelste misshandelt.
Leute lügen, so unwillkürlich, wie sie atmen. Wir lügen, weil wir uns nicht
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