Ohne jede Spur
eines übrig: Er musste es hier auf dem Schreibtisch stehen lassen, in einem Großraumbüro voller PCs, was nicht weiter auffallen würde, erst recht nicht, wenn er ihn ins Netzwerk einbindenund für jedermanns Gebrauch einrichten würde. Unauffällig, weil allzu offensichtlich.
Selbst wenn die Polizei auf den Gedanken käme, die Redaktion der
Boston Daily
zu durchsuchen, stand nicht zu befürchten, dass ein richterlicher Beschluss erlauben würde, sämtliche Computer zu beschlagnahmen, denn das müsste sie, weil ja Jason keinen eigenen festen Arbeitsplatz hatte. Allein die Vorstellung … Das wichtigste Presseorgan der Stadt wäre mundtot gemacht. Unmöglich, nie und nimmer.
Jason stand vom Schreibtisch auf und stopfte den leeren Seesack in einen der Aktenschränke, hob seine schlafende Tochter behutsam vom Boden auf und trug sie nach draußen zum Auto.
Es war Viertel vor sechs. Bald würde die Sonne aufgehen.
Auch für Sandra?
, fragte er sich.
11. Kapitel
Ich arbeite an einem Brief. Um mein Resozialisierungsprogramm zum Abschluss bringen zu können, muss ich einen Brief an das Opfer schreiben, Verantwortung für meine Taten übernehmen und Reue zum Ausdruck bringen. Dieser Brief wird nie abgeschickt. Es wäre dem Opfer gegenüber nicht fair, sagt man uns. Alte Wunden könnten wieder aufbrechen und so weiter. Aber wir müssen ihn schreiben.
Bislang besteht mein Brief nur aus zwei Wörtern:
Liebe Rachel
.
Rachel ist natürlich ein Pseudonym. In der Gruppe kommt nichts Vertrauliches zur Sprache, Sie erinnern sich. Nach sechs Wochen habe ich also erst zwei Wörter geschrieben, wovon eines gelogen ist.
Heute Abend aber hoffe ich, mit meinem Liebe-Rachel-Brief voranzukommen. Heute Abend erfahre ich, wie sich ein Opfer fühlt.
Eigentlich würde ich am liebsten weglaufen. Hab darüber nachgedacht, hin und her überlegt, bin aber auf keinen grünen Zweig gekommen. Wer heutzutage, also nach 9/11, abhauen will, müsste schon ein gewiefter Logistikexpertesein, denn Big Brother passt noch schärfer auf. Mit meinem Ausweis kommen Flugzeug oder Eisenbahn für mich nicht in Frage, und ein Auto habe ich auch nicht. Was soll ich machen? Zu Fuß über die Grenze?
Tatsache ist, ich habe weder die Kohle noch das Zeug zum Untertauchen. Ich musste für meine Lügendetektortests und die Therapiegruppe bezahlen, ganz zu schweigen von dem Hunderter pro Woche, der direkt an Jerry geht. Er spricht von Entschädigung. Ich bezeichne es als Versicherung, dass er mich in South Boston nicht aufspürt und mir alle gottverdammten Knochen bricht.
Mein Konto lässt also nicht zu, dass ich abhaue.
Was soll ich machen?
Ich bin nach der Gruppensitzung auf direktem Weg nach Hause zurückgekehrt. Eine halbe Stunde später klopft Colleen bei mir an.
«Kann ich reinkommen?», fragt meine Bewährungshelferin, sehr höflich, sehr entschieden. Sie trägt ihre roten Haare diesmal zerstrubbelt, was aber von ihrer ernsten Miene nicht ablenken kann.
«Klar», sage ich und halte ihr die Tür auf. Colleen hat mich erst einmal besucht, ganz zu Anfang, als sie sich vergewissern wollte, dass ich einen festen Wohnsitz habe. Das ist zwei Jahre her, und seitdem hat sich nicht viel geändert. Schöner wohnen ist nicht unbedingt mein Ding.
Sie geht durch den zugestellten Flur zielstrebig in den hinteren Teil des Hauses, wo meine geschäftstüchtige Vermieterin Mrs Houlihan ein Wohnzimmer und einen Wintergarten in ein sechsundvierzig Quadratmeter großes Apartment hat umbauen lassen, für das ich monatlichgesalzene achthundert Dollar abdrücken muss. Mrs H. steckt das Geld in die Grundsteuer für das Haus, in dem sie seit über fünfzig Jahren lebt. Sie will es nicht aufgeben müssen, nur weil irgendein Yuppie irgendwann einmal unsere Nachbarschaft entdeckt und die Immobilienpreise in die Höhe treibt.
Tatsache ist, ich habe Mrs H. ganz gern, trotz der blöden Spitzengardinen, die sie mir vor jedes Fenster gehängt hat, oder der gehäkelten Polsterschoner auf sämtlichen Sitzmöbeln (die offenbar mit Stecknadeln befestigt sind, denn mindestens einmal am Tag werde ich gepikt). Wie auch immer, Mrs H. weiß von meiner Vergangenheit und lässt mich trotzdem bei ihr wohnen, obwohl ihr die eigenen Kinder deswegen ständig in den Ohren liegen (das Haus ist ziemlich hellhörig). Und dann ertappe ich sie immer wieder in meiner Wohnung.
«Hab was vergessen», krakeelt sie und spielt auf ihr Alter an. Mrs H. ist achtzig und wie ein Gartenzwerg
Weitere Kostenlose Bücher