Ohne jede Spur
inmitten der heruntergekommenen Mietskasernen von Roxbury hochgezogen worden war. Man hatte gehofft, dass eine starke Polizeipräsenz eine Sanierung dieses innerstädtischen Bezirks nach sichziehen würde. Aber daraus wurde nichts. Stattdessen fürchteten sowohl die Angestellten als auch die Besucher in diesem Bau um ihr Leben.
Jason sah sich nach einem halbwegs geschützten Parkplatz um, ohne große Hoffnung darauf, nach seiner Rückkehr den Volvo intakt vorzufinden. Er machte sich auch Sorgen um den Kater. Mr Smith hatte während der vergangenen sechsunddreißig Stunden mindestens eins seiner neun Leben verloren. Und wie viele mochte er noch haben?
«Hier gefällt’s mir nicht, Daddy», sagte Ree, als sie mit dem Stoffhasen im Arm aus dem Kindersitz kletterte. Der Parkplatz bestand aus aufgesprungenem Asphalt und einer Umgrenzung aus Betonklötzen. Dekorationà la Beirut.
Jason holte sein Notizbuch aus der Tasche, riss zwei Seiten heraus und schrieb mit Rees’ rotem Crayola-Marker in dicken Blockbuchstaben:
Vorsicht, tollwütige Katze. Fernhalten
.
Den einen Zettel legte er vor die Windschutzscheibe aufs Armaturenbrett, den anderen auf die Heckfläche. Dann warf er einen letzten Blick auf Mr Smith, der müde eines seiner goldenen Augen öffnete, gähnte und weiterschlief.
«Pass gut auf», murmelte Jason. Er nahm Ree fest an die Hand und steuerte auf die Fußgängerbrücke zu.
Je näher sie dem riesigen Glaskasten kamen, desto langsamer wurden seine Schritte. Er betrachtete Rees kleine Hand, die in seiner sicher und geborgen lag, und es schien ihm, als seien die letzten fünf Jahre einerseitsviel zu schnell, andererseits viel zu langsam vergangen. Er wollte sich jeden einzelnen Moment ins Gedächtnis rufen und festhalten. Denn der Tornado kam näher, und ihm war nicht auszuweichen.
Er erinnerte sich daran, wie seine Tochter, gerade eine Stunde alt, mit ihrer unglaublich winzigen Hand seinen lächerlich großen Zeigefinger entschlossen umklammert hatte und wie ebendiese Hand ein Jahr später zum ersten Mal mit Feuer in Berührung gekommen war, der Kerzenflamme auf ihrem Geburtstagskuchen, ehe er oder Sandy hatten eingreifen können. Er erinnerte sich an einen Nachmittag, als er sie schlafend wähnte, und an den Computer gegangen war, um all die traurigen Geschichten über traurige Kinder zu lesen, und, über den Küchentisch gebeugt, zu weinen angefangen hatte. Und plötzlich war Ree da gewesen und hatte ihm mit ihren kleinen zweijährigen Händen die Tränen vom Gesicht gewischt.
«Nicht traurig, Daddy», hatte sie ihm zugeflüstert. «Nicht traurig.»
Und der Anblick seiner Tränen auf den kleinen Fingern seiner Tochter hätte ihn fast aufs Neue losheulen lassen.
Es drängte ihn jetzt, mit ihr zu reden. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Er wollte sie bitten, ihm zu vertrauen, ihr Hoffnung machen und versichern, dass er alles wieder in Ordnung brächte.
Er wollte ihr für vier wunderschöne Jahre danken, ihr sagen, dass sie das beste kleine Mädchen auf der Welt war, sein Sonnenschein und die Liebe seines Lebens.
Sie erreichten das Portal, das die Kleine offenbar einschüchterte,denn er spürte das nervöse Zucken ihrer Hand.
Er schaute auf sie hinab.
Jason erklärte ihr nicht, was er zu tun beabsichtigte. Stattdessen gab er seiner Tochter den besten Rat, den er ihr geben konnte.
«Sei tapfer», sagte er und öffnete die Tür.
14. Kapitel
Nach ihrer Absprache mit Marianne Jackson, der Spezialistin für forensische Vernehmungen, hatte sich D. D. von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität einen Raum zur Verfügung stellen lassen, der freundlicher eingerichtet war als die Verhörzellen ihres Dezernats und dem Kind, so hoffte sie, keine Angst machen würde. Marianne brachte zwei kleine Klappstühle mit, einen rosafarbenen Teppich in Form einer Blüte und einen Korb voller Spielzeugautos, Puppen und Malsachen. In weniger als zehn Minuten hatte sie den Raum in ein hübsches Kinderzimmer verwandelt. D. D. war beeindruckt.
Mit dem Verlauf der morgendlichen Pressekonferenz war sie recht zufrieden. Sie hatte sich vorsorglich kurzgefasst und nur wenig an Informationen preisgegeben. Weniger war zu diesem Zeitpunkt mehr, denn es galt, der zu erwartenden Flut anonymer Anrufe und falscher Beschuldigungen vorzubeugen für den Fall, dass Aidan Brewster, der Ehemann oder, Gott bewahre, der große Unbekannte ins Fadenkreuz der Ermittlungen geraten sollten. Es kam jetzt vor allem
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