Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
Einrichtung hatte sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Im Wohnzimmer fiel mir der Geruch auf, den meine Mum beschrieben hatte, dieser traurige Geruch, wie sie ihn genannt hatte – abgestandene Luft mit stechenden Ausdünstungen der altersschwachen Heizung und des gewundenen Fliegenpapiers. Während er Kaffee kochte, sah ich mir die Wände an, die Auszeichnungen für seinen weißen Wildblütenhonig, die Fotos von ihm und meiner Großmutter. Schlicht gekleidet und stämmig erinnerte sie mich an Håkans Frau. Mein Großvater selbst hatte offenbar immer Wert auf sein Aussehen gelegt. Seine Kleidung war gut geschnitten. Fraglos war er attraktiv gewesen und ungeheuer ernst, er hatte nie gelächelt, nicht einmal, wenn er eine Auszeichnung bekam, ein strenger Vater, mit Sicherheit, und ein rechtschaffener Lokalpolitiker. Von meiner Mum hing kein Foto an der Wand. Im ganzen Haus war keine Spur von ihr geblieben.
Als er mit dem Kaffee und zwei dünnen Ingwerkeksen zurückkam, jeder auf einem eigenen Teller, roch ich zum ersten Mal sein Zitrusrasierwasser und fragte mich, ob er es beim Warten auf den Kaffee extra aufgelegt hatte. Er erklärte, bald würden Übernachtungsgäste von der Kirche kommen, deshalb hätte er leider nur eine Stunde Zeit. Das war eine Lüge, die er sich in der Küche zurechtgelegt hatte, damit ich nicht lange blieb. Eigentlich durfte ich nicht beleidigt sein. Ich war unangekündigt und unerwartet bei ihm aufgetaucht. Trotzdem war es eine Zurückweisung, und es verletzte mich. Ich sagte lächelnd:
»Kein Problem.«
Während er Kaffee einschenkte, erzählte ich kurz von meinem Leben, um mich vorzustellen, und weil ich hoffte, er würde vielleicht bei irgendeinem Punkt einhaken. Er nahm seinen Ingwerkeks, brach ihn säuberlich in zwei Hälften und legte beide Teile neben seine Tasse. Dann nippte er an dem Kaffee, aß einen halben Keks und fragte:
»Wie geht es Tilde jetzt?«
Ich interessierte ihn nicht. Es wäre reine Zeitverschwendung gewesen, hätte ich versucht, eine Beziehung aufzubauen. Wir waren Fremde. Also gut.
»Sie ist sehr krank.«
Wenn er zu keinerlei Gefühlen fähig war, würde ich mich eben an die Tatsachen halten:
»Ich muss herausfinden, was im Sommer 1963 passiert ist.«
»Warum?«
»Die Ärzte glauben, es könnte bei ihrer Behandlung helfen.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Na ja, ich bin kein Arzt …«
Er zuckte mit den Schultern:
»Der Sommer ’63 …«
Er seufzte:
»Deine Mutter hat sich verliebt. Eher verknallt, echte Liebe war das nicht. Der Mann war zehn Jahre älter als sie, er hat auf einem Hof in der Nähe gearbeitet, als Saisonhilfe aus der Stadt. Die kleine Tilde war damals nicht mal sechzehn. Ihre Beziehung flog auf. Es gab einen Skandal …«
Ich beugte mich vor und hob die Hand, um ihn zu unterbrechen, genau wie bei meiner Mum, als sie ihre Version der Ereignisse erzählte. Diese Geschichte hatte ich schon einmal gehört, aber über Freja. Vielleicht hatte mein Großvater die Namen durcheinandergeworfen.
»Hat sich nicht Freja in den Feldarbeiter verliebt?«
Plötzlich wurde mein Großvater hellwach. Bisher hatte er melancholisch überdrüssig geklungen, aber jetzt nicht mehr:
»Freja?«
»Ja, meine Mum hat mir erzählt, Freja hätte sich in den Feldarbeiter verliebt. Freja – das Mädchen vom Nachbarhof, die Kleine aus der Stadt, bei dem Skandal ging es um Freja, nicht um Mum.«
Aufgewühlt rieb sich mein Großvater über das Gesicht und wiederholte den Namen:
»Freja.«
»Sie war Mums beste Freundin. Die beiden sind zusammen weggelaufen.«
Der Name sagte ihm etwas. Ich erkannte nur nicht, was.
»Ich weiß nicht mehr, wie ihre Freundinnen hießen.«
Diese Bemerkung fand ich seltsam:
»Das musst du doch noch wissen! Freja ist im See ertrunken! Meine Mum ist nie darüber hinweggekommen, dass du gedacht hast, sie hätte Freja getötet. Deshalb ist sie weggelaufen. Deshalb bin ich hier.«
Stirnrunzelnd starrte er an die Decke, als hätte er dort eine Fliege entdeckt. Er sagte:
»Tilde ist krank. Ich kann nicht ihre Geschichten für dich entwirren. Ich kann nicht hier sitzen und versuchen, aus ihrem Unsinn einen Sinn zu lesen. Das habe ich in meinem Leben lange genug gemacht. Sie ist eine Lügnerin. Oder eine Fantastin, such es dir aus. Sie glaubt ihre eigenen Geschichten. Deshalb ist sie krank.«
Ich war verdutzt, zum einen, weil er so heftig reagiert hatte, aber vor allem, weil es nicht zusammenpasste. Ich bat:
»Ich hätte dich nicht
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