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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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höchstgelegenen Punkt der Stadt. Mit ihren weißen Mauern und dem hohen weißen Turm ragte sie wie ein natürliches Gebilde aus dem Schnee und wirkte kaum wie von Menschen gebaut. Die Frau an der Kasse glaubte nicht, dass ich als Fremder eine der begehrten Karten besaß, und erklärte mir gespreizt, die Veranstaltung sei ausverkauft. Als ich meine Karte vorzeigte, prüfte die Frau sie genau, bevor sie mich widerwillig hineinließ.
    In der Kirche war kein Licht eingeschaltet, dafür beleuchteten tausend flackernde Kerzen die Wände, die aus Holzplanken von alten Fischerbooten bestanden und mit biblischen Motiven bemalt waren. Der Flyer, den ich vom Eingang mitgenommen hatte, erklärte, in dieser Kirche hätten früher Frauen und Söhne und Töchter dafür gebetet, dass ihre Männer und Väter sicher vom stürmischen Meer zurückkehrten. Der perfekte Ort, um für die Rückkehr einer vermissten Tochter zu beten oder in meinem Fall für eine Mutter, die da und gleichzeitig doch nicht da war.
    Versteckt in dem Liedblatt auf meinem Schoß lag eine neu geschriebene Liste mit den Verdächtigen meiner Mum. Zuerst traf der Bürgermeister ein, der in bester Politikermanier alle Anwesenden begrüßen wollte. Mich übersah er geflissentlich – das war der einzige Dämpfer in seiner sonst überbordenden Freundlichkeit. Die ersten Reihen waren reserviert, und zu dem Bürgermeister gesellten sich dort unter anderem der Kommissar und der Arzt. Als die Kirche voll war, kamen Håkan und seine Frau. Ich konnte ihm ansehen, dass er es genoss, wie die Blicke der ganzen Stadt ihm zu seinem reservierten Platz in der ersten Reihe folgten.
    Sobald diese wichtigen Stützen der Gemeinde saßen, begann der Gottesdienst. Eine Prozession junger Männer und Frauen in schneeweißer Kleidung zog durch den Mittelgang, die Männer hielten Stäbe mit goldenen Sternen in den Händen, die Frauen Kerzen. Singend schritten sie durch die Kirche und bauten sich vorne in mehreren Reihen auf. Das erste Mädchen trug einen stählernen Ring mit Kerzen, eine Krone aus Feuer, auf den blonden Haaren. Im letzten Jahr hatte Mia diese Rolle der Lichtheiligen in der Prozession übernommen. Der Gottesdienst dauerte über eine Stunde. Die Gemeinde verehrte Licht und Wärme nicht als abstrakte Vorstellung, sondern als ein starkes Bedürfnis, wie einen geliebten Menschen, den man vermisst. Obwohl es sich offensichtlich anbot, wurde Mia von niemandem erwähnt. Dieses Versäumnis war schon auffällig. Dahinter steckte mit Sicherheit nicht nur ein Versehen, sondern Berechnung; jemand hatte den Pfarrer gebeten, das Thema nicht zu erwähnen, und er hatte eingewilligt. Man konnte es kaum einen Beweis nennen, aber es machte doch stutzig, vor allem, nachdem Håkan in der ersten Reihe saß und Mia im letzten Jahr die Rolle der Santa Lucia gespielt hatte.
    Nach dem Gottesdienst wartete ich neben den flackernden Laternen im Schnee, weil ich gerne noch ein paar Worte mit Håkan wechseln wollte. Ich konnte durch die Kirchentüren sehen, dass er sich mit einigen Gemeindemitgliedern unterhielt und Hände schüttelte, eher wie ein Politiker als wie ein normaler Bürger. Als er mich sah, hielt er kurz inne, mehr nicht, für eine stärkere Reaktion hatte er sich zu gut im Griff. Schließlich verließ er mit seiner Frau die Kirche. Als ich auf Håkan zuging, schickte er Elise vor zu einer privaten Feier. Sie sah mich kurz an, und vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber in ihrem Blick erkannte ich etwas, nicht Mitleid, nicht Feindseligkeit, etwas anderes – Reue oder Schuld. Es war nur ein Moment, vielleicht irrte ich mich, und dann lief sie eilig den Weg zwischen den Kerzen entlang.
    Håkans Höflichkeit wirkte nicht überzeugend:
    »Ich hoffe, der Gottesdienst hat Ihnen gefallen.«
    »Sehr sogar. Die Kirche ist wunderschön. Ich habe mich nur gewundert, dass wir nicht für eine sichere Rückkehr Ihrer Tochter gebetet haben.«
    »Ich habe gebetet, Daniel. Ich bete jeden Tag.«
    Genau wie meine Eltern kürzte Håkan meinen Namen nicht zu Dan ab. Obwohl ich von Natur aus Konflikte lieber vermied, wollte ich ihn herausfordern. Mir fiel etwas ein, das meine Mum gesagt hatte:
    »Ich verstehe noch nicht, wie Mia von Ihrem Hof weggekommen ist. Sie konnte nicht Auto fahren. Sie hat nicht ihr Fahrrad genommen. Sie kann nicht gelaufen sein. Es fuhren keine Busse. Seit ich hier bin, ist mir erst klar, wie abgelegen alles ist.«
    Håkan ging einen Schritt zur Seite in den Schnee, damit niemand

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