Ohne jedes Tabu
sechzehn Stunden am Tag gearbeitet. Du warst hier mit Kevin und frisch verheiratet. Wir waren beide da, wo wir zu dem Zeitpunkt hingehörten, und haben das getan, was wir tun mussten.”
Melanie nickte traurig, bevor sie sich zurücklehnte und Raina nachdenklich ansah. „Warum haben wir nie darüber gesprochen?”
Raina schaute zur Seite und sah Emma zu, die die Rassel in eine leere Schachtel warf und dann fröhlich lachte. Wir haben nie darüber gesprochen, weil ich ein Feigling bin, sollte sie ehrlicherweise antworten, brachte es jedoch nicht über die Lippen.
Weil ich schreckliche Angst hatte, dass du fragst, wer der Vater von Emma ist.
Sie hatte Melanie von ihrer Schwangerschaft erst erzählt, als sie bereits im sechsten Monat gewesen war. Raina wusste, dass Melanie das verletzt hatte, sie es aber auch verstehen würde. Sie würde ihr vergeben und Geduld mit ihr haben. Melanie war immer all das gewesen, was sie nicht war.
„Es tut mir Leid”, sagte Raina. „Ich wollte dich nicht ausschließen. Aber ich war so verwirrt und wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Es gab da ein paar Dinge, denen ich einfach noch nicht ins Auge sehen konnte.”
„Bist du denn jetzt dazu bereit?”
Melanies Frage hallte in Raina wider.
War sie bereit?
Sie war immer noch ganz durcheinander von dem, was sie gestern beim Abendessen erfahren hatte: Lucian hatte am Morgen nach der Hochzeit einen Unfall gehabt.
Nachdem sie an jenem Morgen das Bettzeug gewechselt hatte und alle Spuren von Lucians Anwesenheit in der Nacht beseitigt hatte, hatte sie ihren Koffer gepackt, sich ein Taxi gerufen und war zum Flughafen gefahren. Sie hatte ihr Flugzeug bestiegen, das Land verlassen und die ganze Zeit geglaubt, dass er wortlos gegangen sei.
Drei Monate später hatte sie den schwierigsten Telefonanruf ihres Lebens getätigt …
„Lucian, hier ist Raina.”
„Raina? Welche Raina?”
Die Verwirrung in seiner Stimme, dann das lange Schweigen, das folgte, waren wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Es war eine Sache zu glauben, dass er einfach weggegangen sei; doch dass er sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern konnte, hatte sie nicht ertragen können. Ohne ein weiteres Wort hatte sie aufgelegt und nie wieder angerufen.
Ein Unfall. Er war von ihr weggangen und hatte am gleichen Morgen einen Unfall gehabt.
Sie hatte fast die ganze letzte Nacht wach gelegen und sich in dem Bett, in dem sie und Lucian sich geliebt hatten, hin und her gewälzt. Bilder waren ihr durch den Kopf geschossen: Lucian, wie er mit seinem Pick-up auf dem Eis ins Schlingern kam. Lucian, der verletzt und blutend allein im Straßengraben lag. Lucian im Krankenhaus, den Kopf verbunden.
Er hatte beim Essen gesagt, es sei nicht weiter wichtig gewesen, doch er hatte sich getäuscht. Es war sehr wichtig.
Natürlich wusste sie noch immer nicht, was er für Absichten gehabt hatte, als er an jenem Morgen weggegangen war, ob er zurückgekommen wäre oder sie angerufen hätte. Doch das wür de sie nun wohl nie erfahren.
Weil er es selbst nicht mehr wusste.
Er konnte sich nicht erinnern, nicht an die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, kaum an die Hochzeit. Er schien nicht einmal mehr zu wissen, dass er sie überhaupt getroffen hatte.
Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. All der Schmerz und die Wut, die sie seit jener Nacht verspürt hatte, hatten sich in Schuldgefühle verwandelt. Irgendwie musste sie es wieder gutmachen, dass sie ihm Unrecht getan hatte.
Wenn sie nur wusste, wie.
„Raina.”
Melanies sanfte Stimme erinnerte sie, dass sie noch nic ht geantwortet hatte. Ob sie jetzt bereit sei, hatte Melanie gefragt.
Nein, das war sie noch nicht. Aber sie hatte keine Wahl.
„Es gibt da etwas, das ich tun muss”, sagte sie. „Dann erzähle ich dir alles, bevor ich wieder wegfahre. Das verspreche ich dir.”
„Ich werde dich daran erinnern”, erwiderte Melanie. „So, bevor Gabe mit unserem Tornado Kevin wiederkommt, sollten wir …” Sie hielt inne und lauschte. „Zu spät. Halt dich fest.”
Die Eingangstür wurde aufgestoßen, und Kevin stürmte ins Zimmer. Rainas Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie sah, dass Lucian ihm auf den Fersen folgte. Wie zwei Indianer auf dem Kriegspfad rannten sie heulend durchs Wohnzimmer und in die Küche.
Mit großen Augen starrte Emma ihnen nach.
Gabe schlenderte durch die Tür und schloss sie hinter sich.
Lächelnd ging er zu seiner Frau und gab ihr einen KUSS.
„Lass mich raten”,
Weitere Kostenlose Bücher