Ohne Kuss ins Bett
Hits akzeptierte sie auch Waffeln und Pfannkuchen und Lasagne und Spaghetti und Vollkornrollen zum Abendessen. »Ich mag kein Vollkorn.« »Dann iss die Rollen nicht.« – und sie bekam von Andies nahrhafter, kräftigender Kost allmählich etwas Fleisch auf die Rippen. Nach einer Weile begann auch Andie, zur Musik zu tanzen, und Alice begrüßte das erstaunlicherweise. Sie war noch immer blass wie ein kleiner Geist, aber sie war nun ein gesunder, kräftiger kleiner Geist. Als drei Wochen vergangen waren, waren von den Problemen, die Andie bei Alice festgestellt hatte, nur noch ihre hartnäckige Verstocktheit, gelegentliche Schreikrämpfe und ihre Alpträume übrig geblieben.
Andie hatte erst bemerkt, dass Alice Alpträume hatte, als sie eines Abends spät noch in das Badezimmer der Kinder ging und dabei hörte, wie Alice laut weinte. Andie klopfte an die Tür und trat ein und fand Alice hilflos im Schlaf weinend. Sie weckte sie auf, nahm sie in den Arm und trug sie zu dem Schaukelstuhl, wo sie sie sanft auf dem Schoß wiegte und leise mit ihr sprach. »Was ist denn passiert, Schätzchen, was hast du geträumt?« Und Alice schluchzte: »Die hatten Zähne.« »Wer hatte Zähne, Schätzchen?«, fragte Andie, und Alice antwortete: »Die Schmetterlinge.« Andie küsste sie auf die Stirn und erwiderte beruhigend: »Schmetterlinge haben keine Zähne, das war nur ein böser, böser Traum.« Und sie wiegte sie, während Alice leise weiterweinte. Ich brauche ein Wiegenlied, dachte Andie, aber das einzige, das ihr einfiel, stammte aus einem Disney-Comic, den Alice immer und immer wieder abspielte. Sie begann zu summen: »Mein kleines Schätzchen«, und als Alice sich ein wenig beruhigte, sang sie: »Ich hab dich so lieb«, und hielt sie eng an sich gedrückt. Alice seufzte tief und schlief nach einer Weile wieder ein, und Andie hielt sie noch eine Zeit lang im Arm, den Augenblick nutzend und um sicher zu sein, dass der Traum nicht zurückkehrte. Dann brachte sie sie wieder zu Bett und steckte die Bettdecke rings um sie herum fest. Als sie Alice am nächsten Tag nach den Schmetterlingen fragte, antwortete das Mädchen nur: »Weiß ich nicht mehr«, und wandte sich ab, verstockt wie eh und je. Daraufhin installierte Andie in Alice ’ Zimmer ein Babyphon, damit sie es bemerkte, wenn die Kleine schlecht träumte, und sie ihr helfen konnte.
Währenddessen löste Carter die Prüfungsaufgaben, die Andie für ihn auf Grundlage des Lehrplans schrieb, mit Bravour, lauschte geduldig ihren Erklärungen jeder neuen Lektion und schrieb seine kritischen Aufsätze. Wenn irgend möglich, schrieb er über Comics, aber er argumentierte präzise und schlüssig, und mehr verlangte Andie nicht von ihm. Nach einem besonders gelungenen Aufsatz über die Art, wie Comics gezeichnet wurden, nahm sie die Kinder auf dem Weg zum Einkaufszentrum mit in einen Laden für Künstlerbedarf, und dort sah sie Carter zum ersten Mal lächeln. Aha , dachte sie, jetzt kommen wir der Sache schon näher , und sie deckte ihn mit hochwertigem Material zum Zeichnen ein. Abgesehen davon war keine Veränderung an ihm festzustellen: Carter arbeitete schweigend, las schweigend, zeichnete schweigend in seinem Skizzenheft, arbeitete schweigend an seinem Computer und aß alles, was Andie ihm vorsetzte. Allerdings hatte er begonnen, so sehr in die Höhe zu schießen, dass sie schon befürchtete, dass etwas nicht in Ordnung wäre. »Ich schwöre dir, er ist in drei Wochen um vier Zentimeter gewachsen«, berichtete sie Flo, die sie anrief, um sich Rat zu holen. »Ich habe ja erwartet, dass er zulegt, bei all dem guten Essen, das ich ihm vorsetze, aber nicht so sehr in die Länge. Und er geht, als wenn ihn die Beine schmerzen. Ich wollte mit ihm zu einem Arzt, aber er weigert sich.« – »Na, er ist zwölf«, erwiderte Flo. »Das ist ein ganz normaler Wachstumsschub. Sieh zu, dass er weiter genug zu essen bekommt, das ist schon in Ordnung.« Also kaufte Andie längere Hosen für ihn, die seine Knöchel wieder bedeckten, gab ihm ein Aspirin, wenn er Anzeichen von Schmerz zeigte, und setzte ihm weiterhin reichlich zu essen vor. Und Flo hatte recht, er war in Ordnung. Schweigsam, aber in Ordnung.
Und die ganze Zeit über versuchte Andie herauszubekommen, was, zum Teufel, in Archer House nicht stimmte.
Denn nachdem eine gewisse Routine der täglichen Abläufe eingekehrt war – am Vormittag Schularbeiten, zum Lunch überbackener Toast und Tomatensuppe, am Nachmittag Lesen und
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