Ohne Netz
Ohne das Internet wüsste niemand mehr von ihrer Existenz, nicht einmal mehr ihre nächsten Angehörigen.«
Ja, es ist fantastisch, dass es solche Möglichkeiten gibt. Dass Familien, die auf der Flucht auseinandergerissen wurden, einander über die dänische Plattform Refugees United suchen können. Dass in Ländern wie China die staatliche Kontrolle an ihre Grenzen gerät, weil im Netz die Blogs wuchern und Twitter zu schnell ist für die Zensoren. Dass die Bilder von den blutigen Zusammenstößen in Iran in Echtzeit um die Welt gingen.
Aber wir hier, wir sind nicht in der Sahara, nicht in China, nicht in Iran. Und ich finde es ziemlich beunruhigend, dass wir vor lauter In-den-Rechner-Starren gar nicht mitbekommen, wie währenddessen hinter unserem Rücken viele analoge Strukturen in solch schnellem Tempo vom Netz aufgesaugt werden, dass ich mich mittlerweile frage, ob man das Experiment, das ich gerade durchziehe, in zwei, drei Jahren überhaupt noch machen könnte. »Wir haben keinen blassen Schimmer, was das Netz gerade kulturell mit uns macht«, wird der Soziologe Hartmut Rosa mir in ungefähr drei Monaten in seinem Universitätsbüro sagen, »es geht zu schnell, wir kommen mit der theoretischen Einordnung dieses Umbruchs auch nicht ansatzweise hinterher.« Warum ich jetzt schon weiß, dass Rosa das sagen wird? Auch in der analogen Welt gibt es noch Zauberei!
Dreimal setzt sich an diesem Abend im Sekretariat das Faxgerät mit seinem rachitischen Rattern in Bewegung. Dreimal laufe ich hin, aber wieder nur Pressemitteilungen der SPD und des Kammermusikvereins. Nach zweieinhalb Wochen in der analogen Wildnis frage ich mich, warum gerade die bayerische SPD ihre Mitteilungen so besonders gerne mit dem Fax verschickt. Können die sich keine modernen Kommunikationsmittel leisten? Sind ihre letzten treuen Mitglieder so alt, dass man sie am besten per Fax erreicht? In dem Moment fällt mir überhaupt erst ein, dass wahrscheinlich keiner meiner Freunde überhaupt noch ein Faxgerät hat.
Na toll, 17 Tage offline und schon der Melancholiker. Dabei wollte ich mich doch anfreunden mit meiner Langeweile. Statt immer nur vor ihr ins Netz zu flüchten, wollte ich mich der Langeweile endlich einmal mannhaft stellen, ja darin umherspazieren und mir ihre Inneneinrichtung ansehen. Nach einer halbstündigen Stippvisite würde ich sagen: Meine Langeweile sieht auch von innen sterbenslangweilig aus, ich komme mir vor, als wäre ich an einem vernieselten Sonntagnachmittag ziellos in der Fußgängerzone einer strukturschwachen Kleinstadt herumgelaufen, Pfützen, blinde Ladenfenster und irgendwo klonkern Kaufhof-Fahnen gegen Alustangen.
Ich gehe zurück ins Büro, hocke mich in mein Selbstmitleid wie in eine kalte Pfütze und höre mir »Railroad Man« von den Eels an:
»i feel like an old railraod man
getting on board at the end of an age
the station’s empty and the whistle blows
things are faster now
and this train is just too slow«
20. DEZEMBER
4.38 Uhr, die längste Nacht des Jahres. Während ich die Spüle einlaufen lasse, sagt der Radiosprecher, dass die Klimakonferenz von Kopenhagen gescheitert sei. Den Tassen steht das Wasser bis zum Hals, dazwischen treiben zwei Crème-fraîche-Becher, und der Sprecher verkündet mit dieser fadendünnen, nachrichtenneutralen Stimme, man habe sich nicht einigen können auf verbindliche Ziele. Der Schaum quillt um die Tassen herum zu wattigen Hügeln auf, als Angela Merkel zitiert wird mit den Worten, ganz so schlimm sei es nun auch wieder nicht, immerhin hätten die Staaten ja das Zweigradziel zur Kenntnis genommen. Unter einem hohen Glas treiben Mohnkörner wie Plankton unterm Eis entlang, und Renate Künast sagt in trotziger Depressionsleugnung, dann mache jetzt eben jeder sein eigenes Kopenhagen zu Hause. Sehr witzig. Machen wir doch längst. Ich fische die Crème-fraîche-Becherchen aus dem Wasser und die eineinhalb Gramm Aluminiumdeckel, um sie nachher brav zum Recycling zu tragen.
Später rät ein Mann von einer Umweltschutzorganisation, Protest-Mails ans Bundesumweltministerium zu schicken und in CC an die Kanzlerin. CC ist die Abkürzung für carbon Copy, was wiederum der englische Ausdruck ist für Durchschlag, genauer gesagt für das dünne Kohlepapier, mit dessen Hilfe früher, im Präkambrium der Technikgeschichte, damals, als noch dinosauriergroße, träge Schreibmaschinen die Büroräume bevölkerten, beim Tippen Kopien hergestellt wurden. Die zig Billionen Mails, die
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