Ohne Netz
Schneetreiben zum Hauptbahnhof, um mir einen Teil der internationalen Zeitschriften zu besorgen, deren beste Texte mir in meinem früheren Leben Morgen für Morgen frisch und appetitlich bei Arts and Letters Daily aufgeschnitten wurden. Die losen Seiten meines Telefonbuchs werden mit einer dieser Schnellhefterspangen zusammengehalten, deren goldene Enden aber zu kurz sind für das dicke Konvolut. Sobald ich blättere, rutschen die obersten Seiten aus dem Hefter. Ich komme mir damit vor wie ein Kontorist in den fünfzigerjahren, so einer mit Ärmelschonern und Heinz-Rühmann-Schmunzeln.
Noch schrecklicher, als Telefonnummern zu suchen, ist die Arbeit mit herkömmlichen Wörterbüchern. Erst als ich gestern für die Übersetzung eines Tony-Judt-Textes ein paar englische Wörter nachschlagen wollte, wurde mir bewusst, dass ich in all die Langenscheidt- und Pons-Bände, die hinter mir im Bücherregal stehen, seit vielen Jahren nicht reingeschaut habe. Auf den 2000 Jahre alten Tongefäßen, die der Hirtenjunge zufällig beim Ziegenhüten in den Höhlen von Qumran fand, lag weniger Staub als auf diesen Bänden. Die stehen da noch rum wie eine Art Biographietapete, der »Petit Robert« aus Paris, das Griechischwörterbuch aus dem ersten einsamen Semester in Berlin. Wie vergilbte Urlaubserinnerungen, die man gar nicht mehr wahrnimmt. Man blättert sich dumm und dusselig in diesen Büchern.
Sollte also noch irgendjemand Bedenken haben gegen das Web 2.0., einfach hier vorbeikommen, eine halbe Stunde vor meinen Käfig stellen und mir dabei zusehen, wie ich mich durch die schüttere, analoge Restewelt taste, Wörterbücher, Kioske, zugige Telefonzellen, röchelnde Faxgeräte und die ahnungslose Auskunft. Danach wird er sich kopfschüttelnd abwenden und dankbar durch Google, Wikipedia, telefonbuch.de und die Leo-Wörterbücher flanieren. All diesen Digitalschwaflern hingegen, die da behaupten, es gebe gar kein Außerhalb des Netzes mehr, sage ich: Klar gibt es das, hier bei mir, zwölf Quadratmeter, komplett außerhalb.
Mit anderen Worten: Ich schwanke zwischen euphorischer Sehnsucht nach der Wundermaschine und beeindrucktem Staunen darüber, wie rasend schnell sie die Welt aufsaugt. Ich bemerke in diesen ersten Tagen und Wochen geradezu schmerzhaft, wie klug das Netz ist, wie schnell, wie fantastisch sortiert. Odo Marquard schreibt in seiner »Philosophie des Stattdessen«: »Die neuen Medien ersparen uns Informationsmühe und bewältigen Steuerungsschwierigkeiten. Je besser sie das machen, desto mehr schimpft man auf sie. Das aber ist völlig normal. Je besser es den Menschen geht, desto schlechter finden sie das, wodurch es ihnen besser geht; denn sobald es uns gut geht, werden wir Prinzessinnen auf der Erbse. Wirkliche Errungenschaften nämlich werden nicht genossen, sondern sind selbstverständlich. Die verbleibenden Nachteile ziehen dann unsere volle Aufmerksamkeit auf sich.«
Seine Erbs-Sünde, den polemischen Vergleich mit der Prinzessin, verzeihe ich ihm: Der Satz insinuiert ja, dass die hier verhandelten Dinge allesamt eingebildete Luxusprobleme einer dekadenten, undankbaren Gesellschaft seien, die das große Geschenk, den Fortschritt, so selbstverständlich einkassiert wie das Grünwalder Einzelkind den Geschenkeberg unterm Weihnachtsbaum. Ja, wir sind Prinzessinnen. Aber die Erbse, um die es hier geht, verursacht bei einigen tatsächlich offene Geschwüre.
Fabrizio Gatti, ein italienischer Reporter, ist vor ein paar Jahren in den Senegal geflogen, um sich von dort aus mit Laster, Pick-Up, Bus und zu Fuß quer durch die Sahara nach Europa aufzumachen, auf den Routen all der Menschen, die bei uns auf Arbeit und ein besseres Leben hoffen. In »Bilal«, seinem fantastischen Bericht über diese grausame, extreme Reise, erzählt er einmal, wie ihm alle Mitfahrer auf einem überfüllten Lkw mitten in der leeren Ténéré-Wüste ihre Mail-Adressen aufschreiben, damit er ihnen die Fotos von diesem lebensgefährlichen Treck schickt, eines Tages, wenn sie alle es nach Europa geschafft haben werden: »Dabei haben sie kein Zuhause mehr. Wissen nicht, wo sie in einem Monat sein werden. Was sie tun werden. Wo sie in einem Jahr wohnen werden. Aber alle haben eine E-Mail-Adresse. Das Web, das Netz und das Internet sind der einzige feste Halt in ihrem Leben. Der einzige Raum, in dem sie eine Spur hinterlassen können. Diese Menschen, die der Ausweglosigkeit ihres Landes entflohen sind, sind die wahren Bewohner des globalen Dorfes.
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