Ohne Netz
Toskananachmittags mit abendlichem Goldrand, man hangelt sich mehr schlecht als recht durch grau konturierte Tage, hat psychische Atemnot, weil man Zeit meist als Mangelware und sich selbst als Mangelwesen und lächerliches Auslaufmodell erlebt. Das Netz hilft einem da ja auch, Schritt zu halten mit den anderen.
Um es mal so richtig düster zu formulieren, mit Gorleben-Parka und Protestschild um den Hals: Unser Leben ist so dermaßen ramponiert, dass ich vieles Netzgeschimpfe für ablenkend und damit systemstabilisierend halte. Wenn der deutsche Diskursimperator und Angstmogul Frank Schirrmacher in seinem aktuellen Hirnschocker, dessen Titel ich wegen meiner eigenen neuronalen Totalzerrüttung gerade vergessen habe, so tut, als stünde allein wegen des Google-Geprassels das ultimative Ende des selbstbestimmten Menschen bevor, möchte man zum glühenden Netzapologeten werden, ein Google-T-Shirt anziehen, Facebook-Mitglied werden und eine WLAN-Party feiern, so grotesk verkürzt klingt das.
23. DEZEMBER
Julia Rothaas kommt in der Kantine auf mich zu, um sich zu verabschieden. Sie geht als Redakteurin zu einem Magazin. Ich wünsche ihr alles Gute, sie fragt, ob ich ihr noch meine Adresse mailen kann.
»Das geht nicht, ich bin ein halbes Jahr offline.«
»Okay, dann halt Facebook.«
»Naja, wie gesagt, ich bin offline.«
»Weißt du was, dann mail ich dir einfach meine Adresse.«
So geht es mir oft: Die Leute können es einfach nicht fassen. Man kann ja auch die Luft zum Atmen nicht abstellen. Selbst richtig gute Freunde unter meinen Kollegen, die mich täglich nach meinem Projekt fragen oder damit aufziehen, schicken mir anscheinend immer wieder aus Versehen Mails und kriegen dann die normierte Antwort-Mail von meinem elektronischen Knecht. Am Ende sage ich Julia, sie müsse ihre Adresse auf ein Stück Papier schreiben und in die Hauspost tun. Da lacht sie irritiert:
»Das hab ich ja noch nie gemacht, sind das diese braunen Papierumschläge mit den Löchern drin?«
»Ja, genau die.«
27. DEZEMBER
Lange Texte am Rechner lesen – genauso gut könnte man sich vor einen Glücksspielautomaten setzen, in dem auf verschiedenen Rollen Zeichnungen von Pflaumen, Kirschen, 200-Dollarscheinen rotieren, und in die Mitte, zwischen das optische Kreischen dieser Rollen, den Text einspannen. Beim Lesen im Netz entsteht an der Peripherie des Blickfeldes permanent dieser Sog, links und rechts des Textes blinken entweder Werbebanner oder die anderen Angebote der Seite, die einen weglocken. Währenddessen ploppen Mails hoch, jemand skypt, das übliche Geprassel. Als Forscher des University College London das Onlineleseverhalten von Usern der British Library und der Internetseiten des britischen Erziehungsministeriums untersuchten, stellten sie fest, dass am Computer kaum jemand einen Text zu Ende las. Das lineare Lesen schien – quer durch alle Generationen – einer Art panischem Textgehoppel gewichen zu sein:» User lesen nicht im althergebrachten Sinne. Eher kann man sagen, dass neue Formen des Lesens entstehen, das horizontale ˃Powerbrowsen˂ bei dem Texte nach schnellen Happen durchkämmt werden. Fast scheint es, als würden sie online gehen, um das analoge Lesen umgehen zu können.«
Die Geschäftsführer der OnlineZeitungen werden sich bei dem Erscheinen der Studie die Hände gerieben haben, schließlich haben sie keinerlei Interesse daran, dass man einen Artikel, geschweige denn eine lange Reportage oder einen komplexen Leitartikel, zu Ende liest. Der ideale Netz-User ist für sie der zerstreute Texthopper, der nervös durchs Angebot klickt, der bringt mehr so genannte Page-Impressions, für die man mehr Werbeeinnahmen verlangen kann. Sex sells, Text nicht so. Langer Text erst recht nicht.
Nun kann man zwar gegen diese Londoner Studie einwenden, dass all die Menschen, die auf den Webseiten British Library oder des Ministeriums waren, jeweils irgendetwas Bestimmtes gesucht haben werden. Und in solchen Fällen scannt und scrollt man eben. Außerdem ist selbst die Ablenkung durch Werbung nichts Neues. Victor Klemperer beschreibt einmal, wie er Anfang der dreißigerjahre einen Text für eine amerikanische Zeitung geschrieben und dann fast eine Art innere Implosion erlitten habe. »Als ich das Belegexemplar zu Gesicht bekam, stand von diesem Augenblick an für alle Zeiten das Bild der amerikanischen Presse in ihrer Gesamtheit vor meinen Augen. (...) Mitten durch den Satz meines Artikels, von oben bis unten in
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