Ohne Netz
geschlängelter Linie, die Zeilen halbierend, zeigte sich ein Abführmittel an und eröffnete die Reklame mit den Worten: 30 Fuß Gedärme hat der Mensch.«
Dennoch: Seit der Publizist Nicholas Carr im August 2008 im »Atlantic Monthly« beschrieb, wie sich sein Gehirn durch das permanente Linkhopping an das zappelige Netz adaptiere, ist die Klage von der Konzentrationszerstäubung zum Leitmotiv der Internetkritik geworden. »Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass jemand oder etwas an meinem Gehirn herumgebastelt hat«, schrieb Carr. »Als ob der Neuronenschaltkreis neu gepolt und die Erinnerung neu programmiert würde. Früher fiel es mir leicht, mich in einem Buch zu verlieren. Heute kommt das kaum noch vor. Ich werde nach zwei Seiten zappelig und schaue mich nach einer anderen Beschäftigung um. Das konzentrierte Lesen, das mir früher leicht fiel, wird zu einem anstrengenden Akt. (...) Früher war ich ein Taucher im Ozean der Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer.« Kaum ein Text im Netz führte je zu solch heftigen Debatten wie Carrs Beschreibung seines abnehmenden Konzentrationsvermögens.
Ich muss nach den ersten Wochen meines Experiments sagen, dass ich bislang auch im analogen Büromodus kaum mal tief in einem Text versinke. Die gehetzte Unruhe während der Arbeit ist schließlich dieselbe wie vor dem Abschalten: Ich scanne Kataloge, wÜhle mich durch die Meldungen, rastere Magazine durch. und dann »Bilal« quer gelesen, Fabrizio Gattis Bericht über all die schwarzafrikanischen Saharadurchquerer, um zu sehen, ob es sich lohnen würde, den Autor zu treffen. All dieses atemlose Herumfingern belegt, dass ich Zeit in meiner Arbeit meistens als etwas nervös Vertickendes erlebe: Der tägliche Betrieb funktioniert wie ein Countdown, der Tag rast auf 16.30 Uhr zu, auf den Moment des Belichtens, als sei die Zeit eine abschüssige, seifig glatte Fläche, auf der man unmöglich bremsen kann.
Kein Wunder, dass ich bislang nie entspannt in dem schönen grünen Stuhl von meiner Oma saß, den ich mir vor Beginn des Experiments ans Fenster gerückt habe, um von hier aus als freier analoger Mensch den Blick über die Alpen schweifen zulassen. Stattdessen hing ich weiterhin am Flachbildschirm, nur jetzt wie das Opfer einer Dürrekatastrophe, das seinen leeren Becher unter den tröpfelnden Hahn hält, aus dem es früher in viel zu dickem Strahl sprudelte.
[30] 30. DEZEMBER
Ich radle nach der Arbeit ruhig am Deutschen Museum entlang, als plötzlich 150 Meter vor mir ein Auto auf den Bürgersteig katapultiert wird. Um eine halbe Sekunde versetzt, erreicht mich der Knall eines brachialen Zusammenstoßes, während die Schnauze des Wagens noch vor sich hinschaukelt, als müsse der Kühler die jäh gebremste Geschwindigkeit aus sich herauswürgen. Ein scharfes Zischen und etwas Schepperndes, vielleicht eine Radkappe, dann totale Stille. Etwa drei Sekunden lang. Und dann hört man dieses Kind gellend schreien. Der Schrei ist so schrecklich, als würde mir einer eine Axt in die Schulter hauen. Als ich an der Kreuzung ankomme, umringen mehrere Erwachsene einen kleinen Jungen, der neben dem Auto liegt, plötzlich verstummt und auf seine ausgestreckten Beine starrt. Stirbt der gerade? Ist er unter Schock? Zum Glück habe nur ich mein Handy abgegeben, die anderen Zeugen zücken umgehend ihre Telefone, um einen Notarzt zu rufen.
31. DEZEMBER
73 Billionen. Meine Güte. Unplugged sieht das so aus: 73 000 000 000 000. Soviele Mails wurden angeblich im vergangenen Jahr verschickt. Mit solchen Ziffernbergen hantieren sonst nur amerikanische Astrophysiker oder Hedgefonds-Manager herum. Das sind aber auch knallharte Burschen, die in Harvard psychisch darauf vorbereitet wurden, lebenslang mit extremen Nullen umzugehen. Aber ich? Was wenn eine solche Zahl in meinem kleinen Leben einschlägt wie ein Komet? Ich verbringe meine Zeit doch inmitten von freundlichen Zahlen, so handsam wie ein Streichelzoo: Werde, wenn alles gut geht, 80 Jahre alt, was Pi mal Daumen die Mitte sein dürfte zwischen einer Millisekunde und dem Alter des Alls. Bin einsachtzig groß, was wiederum die wohnliche Mitte zwischen einem Nanometer und den kosmischen Größendimensionen ist.
Andererseits können mir die 73 Billionen ja auch vollkommen wurscht sein. Ich muss sie ja nicht lesen. Genauso wenig wie die 200 Millionen Neujahrsgrüße, die heute angeblich in Deutschland per SMS verschickt werden. Ich hab keine
Weitere Kostenlose Bücher