Ohne Netz
inkontinent, die Farbbänder gingen aus, die Zettelkästen führten zu endlosem Papierverhau, gut, dass all das so tief in der Zeit versunken ist wie Ägyptens Pharaonen unterm Wüstensand.
13. JANUAR
All den Apokalyptikern, die allein aufgrund des Internets den ultimativen Kulturverfall heraufziehen sehen, sollte man einen Besuch in Axels Büro verschreiben. Die meisten von denen sind ja wie alle Sektierer beratungsresistent, einige aber würden danach vielleicht nicht mehr ganz so selbstgewiss von der irreversiblen, totalumgreifenden Zerstreuungsmacht des Netzes reden. Neben seinem Broterwerb, dem Contentmanagement für eine der größten Softwarefirmen der Welt, betreut er nebenbei und unentgeltlich die Münchner Filmkritikenseite artechock.de mit. Und er hat sich gerade einen schönen neuen Bücherschrank um sein kleines Sofa herumbauen lassen. Da sitzt oder fläzt er jetzt jeden Tag und liest und liest und liest.
Andererseits gilt vielleicht aber auch hier: »It’s the economy, stupid.« Axel hat sich seinen Beruf so eingerichtet, dass er nur zwei, drei Stunden am Tag arbeiten muss. Diese Stunden sind meist angefüllt mit entfremdeter Erwerbsarbeit, dafür kann er aber über seine restliche Zeit frei verfügen. Davon können die meisten nur träumen. Der amerikanische Publizist Nicholas Carr ätzte kürzlich, klar würde er gerne offline gehen, das Netz zerschreddere schließlich sein Denken und seinen Alltag, als freier Autor könne er es sich aber aus ökonomischen Gründen schlichtweg nicht leisten, seinen Internetkonsum zu reduzieren, er müsse permanent abrufbereit sein. Wenn ich so etwas höre, denke ich jedes Mal: Mein halbes Jahr ist auch ein Luxusprojekt. Ich bin festangestellt. Als freier Journalist, der angewiesen ist auf Aufträge, wäre wahrscheinlich schon eine Woche offline fatal, ach der Rühle, antwortet ja nie, fragen wir wen anders.
14. JANUAR
Auf dem Infoscreen, der in den Aufzügen der SZ das Angebot von sueddeutsche.de zeigt, wird ein Gespräch mit einem weithin angesagten Interneteuphoriker beworben: »Das Netz wird zum Superhirn« steht da oder so ähnlich. In dem engen Lift unterhalten sich zwei Männer: »Du solltest das ganze Thema ihnen rüberpitchen, dann haben die den Ball im Feld und müssen reagieren.« »Ja, ist klar, hast völlig recht«, sagt der andere begeistert. Die unfreiwilligen Ohrenzeugen starren stumm auf den Infoscreen. Der eine der beiden Männer sagt in die versammelte Stille: »Ganz klar, du pitchst das an alle, dadurch wird das erstens TOP und zweitens sind die dran, und dann forwardest du das Ganze noch an mich.« Gäbe es einen gerechten Gott, die Erde würde sich nach einem solchen Dialog auftun und die beiden verschlingen. Nichts dergleichen geschieht, Erde bleibt zu, Aufzug geht auf, die beiden Egobooster schreiten aus in einen weiteren hochpotenten Tag, und ich denke, lieber Gott, wenn das Netz tatsächlich gerade zu einem Superhirn zusammenwuchert, dann sorg bitte wenigstens dafür, dass es kein Erwachsenensuperhirn ist.
In der Schule habe ich gelernt, dass man eine Billion Neuronen im Gehirn hat, von denen man aber nur wenige benutzt. Einige braucht man fürs Atmen, Laufen und Verdauen. Aber die meisten könnten eigentlich für prickelnde Unterhaltung sorgen. Warum ist das so selten der Fall? Gewöhnen sich die Neuronen im Laufe des Lebens eine Beamtenmentalität an, sitzen rum wie in riesigen Bürogängen, machen Dienst nach Vorschrift und heften gelangweilt neuronale Vorgänge ab? Oder ist Erziehung ein Synonym für ein jahrelanges stilles Massaker unter all den verqueren Neuronenverbindungen, so dass am Ende nur ein paar öde, pfeilgerade Autobahnen übrig bleiben?
Als ich meinen Sohn, die Geschichte ist vier oder fünf Jahre her, eines Nachmittags aus der Kinderkrippe abholte, lief auf dem Bürgersteig vor uns eine uralte Nonne. Er sagte: »Schau mal, da läuft der liebe Gott. Der ist mit dem Fallschirm aus dem Himmel gesprungen und geht jetzt hier ein bisschen spazieren.« Ich sage nicht, dass mein Sohn großartig ist. Dreijährige sind alle so. Aus denen purzeln den ganzen Tag über die krudesten Sachen raus. Ich frage mich nur, warum ich so etwas nicht denke.
Was passiert neurologisch in den Jahren, die zwischen dem dritten und dem 40. Lebensjahr liegen? Warum wird aus dem wild wuchernden, bunten Denken irgendwann das dürre, graue Rechthaben? Warum ist Phantasie etwas, was sich die meisten Leute irgendwann nicht mal mehr vorstellen können?
Weitere Kostenlose Bücher