Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
Vom Netzwerk:
vor ein paar Seiten über den wohlfeilen Tonfall in all den Studien? Kaum vergehen drei Tage, komm ich selber wieder theoretisch daher. Ab mit dir in die analoge Ecke, Alex, eine Runde schämen!
    10. JANUAR
    Der Familienfrühstückstisch. Auf meinem Teller liegen zerschnittene Avocadoschalen und das Gehäuse einer roten Paprika, über den ganzen Tisch sind Cornflakes verteilt, und in einem der Kindergläser schwimmen Spucke, Haferflocken und andere Schwebeteilchen. So ähnlich muss es im Präkambrium auf der ganzen Erde ausgesehen haben, Wasser, Schmutz und Schlieren, an den Rändern organischer Schmodder und irgendwann die große Explosion, das Leben. Das mir momentan in Form meiner Tochter gegenübersitzt, die so konzentriert in ihr Schlierenwasser schaut, als erwarte sie, dass in diesem Moment in dieser Lake ein Organismus entsteht. Mir fällt in dem Moment auf, dass sie diesen merkwürdigen Augenaufschlag von Katzen hat: Als würde sie mit jedem Öffnen der Lider ein nagelneues Paar Augen ausprobieren. Vor ein paar Tagen hat sie bei einem Krankenhausbesuch vom Arzt eine große Spritze geschenkt bekommen. Auf ihre schüchterne Frage, warum die denn so groß sei, erklärte er ihr, das sei eine Betäubungsspritze. Jetzt schaut sie, den Kopf in die Hand gestützt, in ihr Glas und fragt plötzlich ernst: »Wo ist eigentlich meine Bedeutungsspritze? Ich brauche dringend meine Bedeutungsspritze!«
    11. JANUAR
    Meine Gefängnisbekanntschaft Thomas Mohol hat mir geschrieben: Mein Besuchsformular sei eingegangen und akzeptiert, ich könne ihn also gerne besuchen, er freue sich auf mich. Ich bin beeindruckt, dass sich Terminvereinbarungen in diesen Zeiten tatsächlich noch einen knappen Monat lang hinziehen können. Dennoch verstehe ich da etwas nicht. Wann soll ich denn nun kommen? Kriegt man da keinen Termin? Ich rufe in der JVA an. Ein gemütlicher Beamter sagt, ich sei vorgemerkt für Herrn Mohol. Danke, aber für wann denn? »Das können Sie entscheiden, Herr Mohol wird ja in jedem Fall hier sein.«
    12. JANUAR
    Ganz so schnell wie bei dem Blogger Markus Albers geht es bei mir tatsächlich nicht mit der Umstellung auf den Toskanamodus: Auch in meinen ersten freien Tagen habe ich bislang nicht das Gefühl, dass sich mein Gehirn wirklich beruhigt hätte. Ich arbeite noch immer im Schnipselmodus, hier ein Satz, da ein schemenhaft vorbeiwischender Gedanke, nur dass ich, statt zwischen verschiedenen Programmen, Mails und Homepages zu wechseln, verschiedene Einträge meines Tagebuchs geöffnet habe, permanent im Text umherpendle und oft nicht weiß, was ich gerade noch wollte und wo ich überhaupt bin. Es kommt mir vor, als würde ich in einem riesigen Bergwerk zwischen mehreren dunklen Stollen hin- und herirren. Hat sich da das computerspezifische Patchworkarbeiten, das Stückwerkgebastel am Bildschirm so tief in mich eingesenkt, dass es eben nicht getan ist mit ein paar Monaten Fasten? Oder ist das Ganze eher Typsache, schließlich habe ich in der prädigitalen Zeit meine Texte auch schon so zusammengetüftelt: Ich habe mein Komparatistikstudium im Sommer 1990 angefangen. Die erste Seminararbeit schrieb ich noch auf der Schreibmaschine meiner Eltern, einer weißblauen Olympia. Es war qualvoll, mehrfach fing ich neue Fassungen an. Als ich nach dem vierten Durchgang merkte, dass man das ganz anders zusammenbauen müsste, schnitt ich entnervt einzelne Seiten auseinander und klebte alles neu zusammen. Als die Dozentin die Arbeit sah, sagte sie, so etwas hätte sie vor zwei Jahren noch angenommen, aber heute sei das nicht mehr state of the art, ich solle das Ganze bitte noch mal schreiben. Da habe ich mir meinen ersten Computer gekauft.
    Dieses manuell zusammengeklebte Patchworkteil schlummert noch immer in meinem Uniordner, ich habe es mir vorhin angesehen. Die Dozentin hatte seinerzeit völlig recht. Zusätzlich zu dem Geklebe hatte ich durchgängig alle Fehler mit Tipp-Ex ausgebessert, dieser weißgräulichen Schliere, die nach Nagellack aus Osteuropa roch und meist klumpte. Muss ich jetzt melancholisch werden, weil uns heute ein solch haptisches und olfaktorisches Erleben des Schreibvorgangs fehlt? Geh bitte, wie die Österreicher sagen. Es stank elendig und sah Scheiße aus. Kuliflecken und überquellende Zettelkästen, Farbbänder, Kladden und fehlerübersäte Manuskripte – wer dem nachtrauert, möge in seiner Freizeit Saalwärter in einem Museum für Technikgeschichte werden. Die Kulis spotzten, als seien sie

Weitere Kostenlose Bücher