Ohne Netz
abends vorm Schlafengehen war das auch das Allerletzte, was ich gemacht habe. Facebook war mein Leben, ich hab meine Freunde kaum noch getroffen, brauchte das aber auch nicht, weil ich digital extrem eng mit ihnen vernetzt war. Nachdem mir aufgefallen war, was mir jetzt plötzlich fehlte, wurde ich noch unruhiger, es hat permanent genagt.« Ich frage ihn, ob er heute immer noch sagen würde, dass der Blackberry-Entzug für ihn schlimmer sei als der Freiheitsentzug, wie er mir damals schrieb. »Natürlich. Draußen, in Freiheit, habe ich die meiste Zeit alleine in einem Raum gesessen und mit anderen kommuniziert. Hier sitze ich auch alleine in einem Raum. Physisch ist da also kaum ein Unterschied. Aber ich kann nicht mehr kommunizieren. Hätte ich hier drinnen Handy und Netz, es wäre für mich kaum mehr Strafvollzug.«
Nun muss man sagen, dass Mohol Glück im Unglück hat. 70 Prozent der Häftlinge haben im Gefängnis keine Arbeit, »gerade erst wurden wieder 278 entlassen, weil die Firma Rosenberger ihre Produktion nach Ungarn verlegt hat.« Mohol wurde sofort nach seiner Inhaftierung Vorarbeiter in der Papierverarbeitung und verschickt jetzt die Werbung, die er früher selber produziert hat: Draußen hat er sein Geld als Werbetexter verdient, gleichzeitig im elterlichen Handwerksbetrieb mitgeholfen, als Journalist gearbeitet, und er hatte gerade ein historisches Sachbuch veröffentlicht, als er verhaftet wurde. Das war im April 2009. Jetzt bekommt er 1,59 Euro Stundenlohn und kann, wenn einmal im Monat eine Edeka-Betreiberin aus Miesbach vorbeikommt und in einem Souterrain Reste aus ihrem Laden anbietet, ein paar Dinge kaufen, um das magere Anstaltsessen anzureichern. »Wir kriegen ja nur zwölfhundert Kalorien täglich. Ich war eher pummelig, aber hab hier drinnen zwanzig Kilo verloren.«
»Ach so, Sie sehen so durchtrainiert aus, dass ich dachte, Sie seien Sportler.«
»Das ist eine Nebenwirkung vom Singen.«
Mohol ist Solist im Kirchenchor des Gefängnisses. Einer seiner Mitsänger traf mit solch inbrünstiger Konsequenz keinen einzigen Ton, dass Mohol ihn unter seine Fittiche nahm und seither jeden Tag in seiner Zelle mit ihm Tonleitern und die jeweils aktuellen Stücke übt. »Mittlerweile trifft er neun von zehn Tönen. Der Mann ist Sinti, und in deren Kultur gehört es dazu, dass man für ein Geschenk etwas zurückgibt. Und da der nun mal Bodybuilder ist, krieg ich jetzt mein Individualtraining, obwohl ich vor Bernau noch nie eine Muckibude von innen gesehen hatte.«
Vor Bernau. Der Ausdruck taucht oft in seinem Reden auf. Die Haft fing für ihn in dem Moment an, in dem er seinen Blackberry abgeben musste. Als seine Eltern ihn ins Gefängnis brachten, verschickte er noch bis zur Pforte Mails. »Ich war ja mit Freunden über Facebook verbunden. Tag und Nacht. Und dann haben die mir das weggenommen. Man gibt hier alles ab, wirklich alles, und zieht dann diese ekelhaften Anstaltsfeinrippunterhosen an. Das ist ein Schock. Aber da kommt man drüber weg.« Über den Handyverlust nicht. Mohol begann in seiner Nervosität, an seine Familie und an Freunde Briefe zu schreiben. Und wartete. Mails werden normalerweise spätestens nach 24 Stunden beantwortet, eine SMS nach einer Stunde. »Ich aber saß hier rum. Einen Tag. Zwei Tage. Ab dem dritten war’s die Hölle.« Mohol hatte Phantomschmerzen. Wenn er auf der Pritsche lag, vibrierte es in seiner leeren Hosentasche. Oder er interpretierte das Geräusch der sich schließenden Zellentür als Handysummen. »Und wenn bei einem der Beamten das Handy klingelt – das ist für mich bis heute so, wie wenn du einem Alkoholiker auf Entzug sagst, da hinten steht der Bierautomat.«
Die Familie antwortete sofort, seine Freunde aber taten sich extrem schwer mit der Umstellung. »Ich werfe ihnen das nicht vor, für mich waren Briefe auch eher etwas aus Jane-Austen-Romanen. Außerdem braucht man für einen Brief immer ein großes Thema. Ich habe meinen Freunden geraten, so zu tun, als würden sie mir eine Mail schreiben. Das machen jetzt einige: Öffnen ein Mail-Fenster, schreiben etwas, drucken das aus und schicken es los. Aber man kann schon am phantasievollen Porto, das einige draufkleben, sehen, wie selten die Briefe schreiben. Mein Bruder fragte mich irgendwann, warum es keine 1,10-Euro-Marken gebe, wo das doch der Standardpreis sei, und er immer umständlich zwei Marken zu 55-Cent kaufen müsse. Der hatte seinen letzten Brief zu D-Mark-Zeiten geschrieben ...«
Zack ist
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