Ohne Netz
die Stunde um, bitte verlassen Sie den Raum, ein Händedruck, dann geht Mohol zurück, Werbung falten, BMW, Mercedes. Vieles von dem, was wir alle täglich aus unseren Briefkästen fischen, kommt aus Bernau. Auf meine letzte Frage, was er tun wolle nach seiner Entlassung, sagte er, er wolle auf jeden Fall einen Chor suchen. »Vor einem Jahr hätte ich jemandem, der mir solch einen Vorschlag gemacht hätte, den Vogel gezeigt. Aber diese selbstgemachte Musik, dass man mit anderen zusammen Töne erzeugt und dann schwebt das plötzlich im Raum, die tut enorm gut.«
Auf der Zugfahrt zurück nach München sitzen direkt vor mir zwei kleine Jungs mit ihrer Mutter im Abteil. Die beiden schauen, als der Zug anfährt, zum Fenster raus und zählen die Betonschwellen der Gegengeleise. Sie schaffen es natürlich nur die ersten hundert, zweihundert Meter, dann wird, der Zug so schnell, das die Schwellen vor den Augen verschwimmen, so dass die beiden in Phantasieschritten zählen: »Fünfunddreißig, sechsunddreißig vierzigeinfünfzigneunzihundertzweihunnertdreihunnetausend«. Der Rest ist Gelächter, und ich muss, als ich ihnen zusehe, wie ihre Augen flackernd den Boden abtasten, an all diese Tiraden denken, die im 19. Jahrhundert über die angeblich desaströsen Auswirkungen des Eisenbahnfahrens erschienen, Texte, die man unverändert in Pamphleten gegen das Netz abdrucken könnte.
Sie stammen von Reisenden, die immer mit der Pferdekutsche gereist und es deshalb gewohnt waren, dass der Raum, den man durchquert, in gemächlicher Abfolge wahrgenommen wird. Weshalb einige anfangs nicht damit klarkommen, dass man durch die neue Geschwindigkeit vom Raum getrennt wird und dass man die Welt vom Zug aus anders, flächiger, distanzierter anschauen muss.
Dem Reisenden, der es gewohnt ist, von der Postkutsche aus seinen Blick auf nahe Dinge zu fokussieren, muss bei der neuen Geschwindigkeit fast zwangsläufig schwindlig werden. Victor Hugo schreibt 1837 von einer Zugreise, als sei er auf dem Oktoberfest mit der Fünferlooping-Achterbahn gefahren: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken oder vielmehr rote und weiße Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe.« Weil er versucht, Einzelheiten festzuhalten, wird die Fahrt zum stroboskophaften Terror. Wohlgemerkt: Die Züge zuckelten damals mit ungefähr 30 Stundenkilometern durch die Lande. Die medizinische Zeitschrift »Lancet« meint im Jahr 1862 dramatische gesundheitliche Folgen durch das Bahnfahren belegen zu können: »Die Geschwindigkeit und Verschiedenartigkeit der Eindrücke ermüden notwendigerweise sowohl das Auge wie das Gehirn. Die andauernd sich verändernde Entfernung der Gegenstände erfordert eine unablässige Anpassungsarbeit des Apparates, durch den sie scharf auf die Retina eingestellt werden; und die geistige Anstrengung des Gehirns, sie aufzunehmen, ist kaum weniger ermüdend dadurch, dass sie unbewusst geleistet wird; denn keine Tatsache im Bereich der Physiologie ist unumstrittener als die, dass eine übermäßig funktionelle Aktivität stets materiellen Zerfall und organische Veränderung der Substanz im Gefolge hat.« Materieller Zerfall. Organische Veränderung. Weil man aus dem Fenster schaut. Das klingt wirklich eins zu eins nach Hirnaufweichungspamphleten unserer Tage.
All diejenigen, die das vorindustrielle Postkutschengetrödel gewöhnt sind, erleben Zugfahrten zunächst als Attacke auf alle Sinne, was dann meist umschlägt in ödnis und Abgeschlagenheit. »Ich langweile mich derart in der Eisenbahn« schreibt Gustave Flaubert, »dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.« Und als ich die folgenden Zeilen von Gustave Claudin las, musste ich an meine eigene Internetmüdigkeit nach durchsurften Bürotagen denken: »Manche Leute werden aufgrund ihrer Geschäftsangelegenheiten dazu veranlasst, innerhalb eines einzigen Tages ihren Augen ein Panorama von mehreren hundert Meilen zuzumuten. Sie erreichen ihr Reiseziel, befallen von einer bislang unbekannten Müdigkeit. Fordern Sie diese Opfer der Geschwindigkeit dazu auf, von den Orten zu erzählen, die sie passiert haben, oder die Aussichten zu beschreiben, deren flüchtige Bilder in rascher Folge am Spiegel ihres Bewusstseins vorübergezogen sind. Sie werden
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