Ohne Netz
Wochenende die Angst im Nacken zu sitzen, eventuell nicht schnell genug zu antworten.
Das ging mir permanent genauso. Wenn ich nach einem Tag nicht geantwortet hatte, begann ich die Mails meist mit einem Entschuldigungssatz. Wobei sich diejenigen, denen ich nach so langer Zeit überhaupt noch antwortete, eigentlich glücklich schätzen können: Was ich nicht sofort beantworte, fällt meist hinten runter, die darüber einlaufenden Mails wirken wie eine tonnenschwere Gegenwartswalze, die alles noch so kurz Vergangene wegquetscht: Oft dachte ich bei einer Mail, okay, nachher, heute Abend. Am Nachmittag waren aber zwei Dutzend weitere Botschaften dazugekommen, die vom Vormittag war soweit nach unten verschwunden, dass ich sie schlicht und einfach aus dem Blick verloren habe.
Sollte jetzt jemand einen dieser angeblich lebensstrukturierenden Ratgeber zücken und sagen: »Hier, Seite 23, eine der wichtigsten Regeln: Mails immer nur ein- oder zweimal am Tag beantworten; am besten markieren und abends abarbeiten.« Dann halte ich ihm meinen unstrukturierten Lebensklumpatsch entgegen und sage: Danke für den Tipp, weiß ich auch schon, aber erstens ist das im Berufsalltag kaum durchzuhalten, zweitens führt genau das dazu, dass ich bis spät in die Nacht Mails von zu Hause aus verschicke und dann am nächsten Morgen hoffnungslos übermüdet bin. Der Leser des Ratgebers sagt: »Hier weiß ich ebenfalls Rat, junger Mann, Privates und Berufliches wollen stets sauber getrennt sein!« Auch für diese Vademecumplatitüde möchte ich mich herzlich bedanken, aber ich fürchte, die stammt aus fernen Zeiten, in denen Wörter wie Mittagsschlaf, Muße oder Feierabend noch Geltung hatten und Vademecum nicht der Name einer Zahnpasta sondern ein Synonym für Ratgeber war, glaube ich, aber so genau weiß ich es selber nicht.
Sonst schicken mir Kollegen in den Ferien und am Wochenende Mails an meine private Web-Adresse, weil sie wissen, dass sie mich so rund um die Uhr erreichen, und Freunde mailen mich werktags in der Arbeit an, ich glaube, beide Accounts sind ungefähr im selben Mischungsverhältnis aus Freundschaft und Arbeit befüllt. Mehrfach habe ich versucht, strikt zu trennen, hat aber nie geklappt. Wären es echte Briefkästen, ich müsste alle paar Wochen die Scharniere auswechseln, so oft wie ich auf- und zumache.
8. JANUAR
Sehr eindrücklich wird die gestern beschriebene Verschmelzung von Arbeit und Spaß in der europäischen Google-Zentrale in Zürich sichtbar, einer Mischung aus Zukunftslabor, Wellnessressort, Eliteclub und Freizeitheim. Man rutscht auf Feuerwehrstangen oder Plastikrutschen durch die Stockwerke, es gibt Massage-, Yoga- und Meditationsangebote, Sitzungen werden in Schweizer Seilbahngondeln, Unterwasserkapseln oder loungeartigen Höhlenräumen abgehalten, einmal in der Woche kommt der Friseur, der Fitnessraum hat rund um die Uhr geöffnet, und wer sich anderweitig abreagieren will, kann unter anderem kickern, Schlagzeug oder Tischtennis spielen. Man sieht es den Leuten an, dass sie stolz sind, hier zu arbeiten, sie wirken wie Gralsritter in Turnschuhen. In allen Ecken sitzen kleine Entwicklerteams und diskutieren, und sie können sich alle anscheinend derart schwer nur von ihren Laptops trennen, dass jemand es für nötig befand, an den Feuerwehrrutschen ein Verbotsschild anzubringen: »Don’t use your laptop while sliding«. Das Essen in der hervorragenden Kantine ist kostenlos, jeder kriegt am Tag seiner Anstellung ein Fahrrad geschenkt, es gibt auf jedem Stockwerk kleine Cafébars, die permanent mit Trendgetränken, Bioriegeln, Powersnacks und frischem Obst aufgefüllt werden. Google macht keinen Hehl daraus, dass all diese Angebote den Mitarbeitern nicht aus Altruismus gemacht werden, sondern um ein perfektes Arbeitsumfeld zu schaffen und alle Angestellten jeden Tag möglichst lange hier zu haben. Natürlich herrscht sanfter Zwang, auf den Klos hängen selbst über den Pissoirs Google-Regeln. Kurzum: Der Ort hat auch was von »Schöne Neue Welt«. Andererseits: Wenn man nach einem Tag in der Züricher Google-Welt in ein durchschnittliches Büro zurückkommt, dann wirkt das so ärmlich, karg und phantasielos wie ein osteuropäisches Katasteramt vor der Wende, und man sehnt sich nach diesem verführerischen Ineinander von Freizeit und Arbeit.
9. JANUAR
Vor ein paar Tagen stand in der SZ, dass sich angeblich 75 Prozent der Erwachsenen im neuen Jahr wieder einmal vornehmen, in Zukunft mehr Zeit mit
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