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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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Verwandten und Freunden zu verbringen. Genauso viele sagten, sie wollten ihre Zeit effizienter nutzen. Ich würde all diese Leute gerne in den Arm nehmen und ihnen zuflüstern: »It’s the economy, stupid.« Sich vorzunehmen, seine Zeit besser zu nutzen, ist ungefähr so, wie wenn Renate Künast nach dem Scheitern der Weltklimakonferenz sagt, jeder mache jetzt Kopenhagen zu Hause. Man kann sich da viel vornehmen, natürlich sollte man Alu recyceln, unbedingt sollte man Freunde und Verwandte treffen. Menschen zu treffen, die einem lieb sind, ist die süße Konfitüre auf dem steinharten Brot, das Alltag heißt. Aber diesem diffusen Grundgefühl, nicht zu genügen, es nicht zu schaffen, trotz aller Anstrengungen nicht voranzukommen, kommt man kaum mit Neujahrsvorsätzen bei.
    Der japanische Maler On Kawara malt seit dem 4. Januar 1966 jeden Tag ein Datumsbild. Jedes gemalte Datum entspricht dem Tag, an dem es entsteht. So bekommt dieser Tag einen klaren Rahmen, einen Ausdruck, wird in eine Reihe gestellt und dadurch zu einer immergleichen und doch jedes Mal abgewandelten Harmonieformel. Da leuchtet ein Zeitbegriff auf, wie ihn der Prediger Salomo feiert in den Zeilen, die man heute meist nur noch auf Begräbnissen hört: »Alles hat seine Zeit; für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit. Pflanzen hat seine Zeit, ernten hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit. Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit.«
    Die Zeit gibt allem seinen Sinn. Wenn du weinst, ist jetzt eben der richtige Zeitpunkt, um zu weinen. Und auch wenn du stirbst, war genau dieser Tag anscheinend der dafür gesetzte Moment. Als sei die Zeit etwas Bergendes, der Vorhang, hinter dem Gott waltet, der sinngebende Rahmen, der unser Leben stabil umfasst. Zu Salomons Zeiten gab es eben noch keine Deadlines und kein Multitasking. Heute müsste der Text anfangen mit dem Kalauer: »Alles hat keine Zeit. Für jeden Arbeitsprozess gibt es ein bestimmtes Zeitfenster, das sich aber abhängig von den Quartalszahlen bedeutend schneller schließen kann, als ursprünglich avisiert war.«
    Das vermeintlich Wunderbare an unserer Zeit: Man kann rund um die Uhr gegen die Panik anarbeiten, es nicht zu schaffen. Früher war man an Zeiten gebunden, die Fabrik hat irgendwann zugemacht, die anderen haben geschlafen. Heute sind alle rund um die Uhr wach, schließlich geht es immer weiter, wenn die Börsen in Asien schließen, macht Europa gerade auf, später dann die Wall Street, und unser treues Powerbook und das Smartphone rufen uns mit ihrem ruhig pulsenden Lichtpunkt ohnehin die ganze Nacht über zu, dass sie bereit sind und nur auf uns warten. Und da die Geräte nicht mehr schlafen, warum schlafen wir noch?
    Es ist nie genug. Wenn ich einen Zeitungstext geschrieben habe, stellt sich nur selten ein Gefühl der Befriedigung ein. Eher ist es, als würde ich im Keller meiner Angst eine Kartoffel unten aus einem ewig steilen Haufen ziehen: Sofort kollern aus dem Dunkel zehn andere hinterher. Die meisten Mails, die ich schnell beantworte, haben wiederum neue Antwort-Mails zur Folge. Sollte ich am Jüngsten Tag gefragt werden, warum ich nicht mehr Gutes, Sinnvolles, über den Tag Hinausweisendes getan habe, ich werde dem lieben Gott meine rappelvolle Mailbox zeigen und sagen: »Ich musste antworten.« Wobei, wenn ich’s mir recht überlege, ich bin am Jüngsten Tag eh nicht da, da habe ich einen wichtigen Termin.
    Ich würde ja gerne mal wissen, ob andere das genauso erleben. Mein Gott, gehen da viele Hände in die Höhe, Professoren, Lehrer, Polizisten, Lkw-Fahrer, Broker, Unternehmensberater – alle melden sich oder nicken murmelnd, soviel schichtenübergreifenden Konsens habe ich zuletzt bei Barack Obamas Wahlsieg erlebt. Ein befreundeter Reisejournalist erzählt, wie er im Flieger nach Marokko seine Reportage über Schweden schreibt; eine Buchhändlerin sagt, der Verkaufsschlager unter den Kinderbüchern seien sogenannte Dreiminutenbücher, Sammlungen ganz kurzer Gutenachtgeschichten. Eine Sozialpädagogin sagt, vier von fünf Kindern fühlen sich in Deutschland unter Zeitdruck; und ein leitender Angestellter murmelt, während er in sein Smartphones reintextet, um ihn rum würden alle panisch durch immer neue, immer kleiner werdende Zeitfenster krabbeln, der absolute Wahnsinn.
    Amen. Kann ja wohl nicht wahr sein. Was schrieb ich

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