Ohne Netz
Als ich ihn mal fragte, warum wir uns nicht einfach mal die Kleider vom Leib reißen können, sagte er, so was gebe es nur in Hollywood. Naja, lag ich eben wieder unter ihm, starrte die Decke an und ging die Einkaufsliste durch.«
27. JANUAR
Ich habe seit einigen Tagen das stille, noch unsichere Gefühl, wohltemperierter zu leben, besser gelaunt zu sein, weniger ausgefranst an den Rändern. Und weniger düster. Als ich vor ungefähr zwei Wochen am Abend meine Eltern anrief, sagte meine Mutter, schrecklich, dieses Erdebeben in Haiti. Welches Erdbeben? »Das weißt du nicht?«, fragte sie vorwurfsvoll. »In Porte-au-Prince, furchtbar, da müssen Zehntausende gestorben sein.«
Früher sind die News nonstop durch mich hindurchgeflossen. Haiti hätte ich während der Arbeit live mitverfolgt. So wie ich nach dem Tsunami tagelang völlig elektrisiert die im Netz auftauchenden Touristenfilme angeschaut und Überlebendenberichte gelesen habe. So wie ich in den schlimmsten Tagen der Finanzkrise in meiner Angstgier alle digitalen Kanäle nach neuen Informationen durchschnüffelt habe. Und ich kann da kein Einzelfall sein: Spiegel online hatte damals, als die Weltwirtschaft kurz vor dem Kollaps stand, einen »Live-Ticker«, so als könne man über eine hochkomplexe Wirtschaftskrise berichten wie über ein Fußballspiel. Spätabends habe ich mir während der letzten zwei Jahre immer noch auf Climate Debate Daily die neuesten Horrormeldungen der Klimaforschung reingezogen. Dass das nicht sonderlich gemütsaufhellend wirkte, wusste ich. Ich habe es trotzdem getan. So war mein Betthupferl ein apokalyptischer Cocktail aus Waldschadensberichten und Ernährungskrise, der Eisbär stirbt, der Narwal auch, die Bäume wachsen in der Hitze schneller, das Antarktisschelf schmilzt, das Grönlandeis auch. Oder wie es in Peter Lichts Lied »Marketing« heißt: »Vor dem Schlafengehen noch etwas Holocaust«. Ich weiß selbst nicht, ob das eine neue Form protestantischer Selbstgeißelung war oder noch unter Informiertheit läuft.
Bin ich unpolitischer, weil ich mir das jetzt nicht mehr reinziehe? Nein. Bin ich passiver? Nein. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, innerlich zu wachsen, seit ich nicht mehr permanent die digitale Newsbrühe süffle. Die Nonstoptotalinformiertheit hat mich regelrecht vergiftet: Nach dem Scheitern von Kopenhagen habe ich einen Text fürs Feuilleton geschrieben. Eigentlich sollte es darin um meine Wut gehen, darum, ob man angesichts einer solchen Bankrotterklärung der World Governance zivilen Ungehorsam leisten sollte und welche Protestformen heute überhaupt in Frage kämen. Der Text ist mir aber unter der Hand zu einem niederschmetternd depressiven Lamento darüber geraten, dass man als einzelner ja eh nix ändern kann. Es muss tatsächlich besorgniserregend geklungen haben: Ein Professor aus München schickte mir ein Greenpeace-Magazin mit dem Themenschwerpunkt »Selber machen«. Wirklich tolles Heft. Über lauter Gruppierungen, die sich intelligent zur Wehr setzen; bei vielen davon würde ich aus dem Stand mitmachen wollen. Leider gab es aber bei allen 83 Vereinen und Gruppen ausnahmslos Webadressen als Anlaufstellen ...
Und zwei Tage nach dem Erscheinen des Textes rief der Pförtner bei mir oben im Büro an, in der Eingangshalle stehe ein Herr, der mir unbedingt etwas persönlich geben wolle. Als ich runterkam, wartete da ein freundlicher schmaler Mann, der sagte, er sei Psychotherapeut, mir ein Buch mit dem Titel »Mensch, was nun?« überreichte und erklärend anfügte: »Ihr Text klang so verzagt, mir geht es genauso, vielen meiner Patienten auch, schauen Sie mal, vielleicht hilft Ihnen das letzte Kapitel.« In dem Buch werden laut Klappentext »Möglichkeiten des persönlichen Krisenmanagements bei der Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation diskutiert, um nicht zu sehr von gefühlter Ohnmacht gelähmt zu werden.« Mein Gott, dachte ich, ich wollte einen Aufruf schreiben, nicht zu verzagen, sich zu wehren, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen. Und nun kommen professionelle Helfer an den Stadtrand, um mich zu betreuen.
29. JANUAR
Vor ein paar Tagen stand in der SZ, dass sich das Netz im kommenden Jahrzehnt noch dichter um unser aller Leben legen werde. Es gebe ja heute schon kaum noch Freiräume. Die einzigen »Inseln der Glückseligen«, die dem Redakteur einfallen: Fernsehen und Autofahren. Vor der Glotze und hinterm Steuer, da lebe der Mensch noch »für kurze Zeit im Offline«. Darauf muss
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