Ohne Netz
auch, wenn sie das nicht tun, leben sie gar nicht mehr. Die müssen nonstop online sein. Die wachen jeden Morgen auf mit der Furcht, im Schlaf etwas verpasst zu haben. Nicht nah genug am Kunden zu sein. Und da alle Kollegen ihre Smartphones mitnehmen in den Urlaub, muss das der Familienvater auch tun. Die Kunden erwarten heutzutage, dass man 24 Stunden am Tag erreichbar ist.«
FEBRUAR
Der Proband singt ein Loblied auf seine Kollegen, ohne die er das ganze Experiment abbrechen müsste, und unternimmt eine Reise durch einige bankrotte Kommunen. Er fällt in einem Kölner Sexshop auf, wundert sich über eine Schweizer Facebook-Userin, entdeckt in der Arbeit ein scheintotes Faxgerät und muss gleich zwei Rückfälle beichten, den einen nonchalant, den anderen zerknirscht.
1. FEBRUAR
Am Rande von Meinersen, einem unscheinbaren Dorf in der niedersächsischen Tiefebene, zwischen Hannover und Gifhorn gelegen, steht ein Haus, in dem die wertvollste Ressource der Menschheit gefördert wird: Aufmerksamkeit. Gundula Meyer, eine ehemalige protestantische Pfarrerin, die sechs Jahre bei dem japanischen Zen-Meister Yamada KÔun Roshi studiert hat, betreibt hier ein kleines Zendo. Während des Studiums bin ich ein paarmal zu ihren Sesshins gefahren, fünftägigen, streng strukturierten Schweigeseminaren, bei denen man auf einem Kissen sitzt, zur Wand gerichtet, und versucht, auf seinen Atem zu achten.
Einmal durfte ich im Winter mehrere Wochen bei ihr wohnen. Ich hatte ein kleines Zimmer für mich, musste sechs Stunden am Tag sitzen und hatte ansonsten einfache Aufgaben im Garten oder im Haus zu verrichten. Es waren wunder-schöne Wochen, still, winterlich, einsam, und während des Sitzens im Zendo, in dem es immer ganz sacht nach Weihrauch roch, konnte ich dem Wiesel zuhören, das sich auf dem Dachboden eingenistet hatte und dort fortwährend herumkruschte. Nicht dass ich nach den Wochen besser gewusst hätte, wohin mit mir im Leben oder dass ich irgendwelche auch nur annähernd erleuchtungsähnlichen Zustände erlebt hätte, eher habe ich umgekehrt zum ersten Mal wirklich gemerkt, was für ein immenses Tohuwabohu in meinem Kopf herrscht. Es geht dort lauter zu als auf der Zentralkreuzung einer indischen Chaosmetropole, was für ein horrendes Geplapper. Aber mit dem Sitzen ist es, als würde man um eine kleine Pfütze auf ebendieser indischen Kreuzung ein Absperrband spannen. Der Lärm bleibt derselbe, die Pfütze spiegelt weiterhin das Durcheinander aus Ängsten, Meinungen, Monologen, aber da sich das Wasser in der Lache mit der Zeit beruhigt, die abertausend kleinen Schwebeteilchen sich langsam absenken, spiegelt sie den Lärm zumindest klarer als zuvor. Ich habe diese Wochen als ganz und gar sinnvoll genutzte Zeit in Erinnerung. Dass ich seitdem nicht mehr zu den Sesshins gefahren bin, liegt nur daran, dass ich es nicht schaffte, das Sitzen in meinen Alltag zu integrieren.
Einmal habe ich an einem Sonntag frei genommen und bin vom Zendo aus nach Hannover gefahren, um ins Kino zu gehen. Im Regionalzug hatte jemand einen »Spiegel« liegen-lassen. Abends im Bett las ich darin herum. Das war ungefähr so, als wenn einer, der zarte Kammermusik gewöhnt ist, plötzlich in einem Death-Metal-Konzert vor den übersteuerten Boxen steht, eine wummernde Totalattacke auf alle Sinne. Sicher lag es auch am »Spiegel« mit seinem übersteuerten Katastrophensound, aber vor allem lag es daran, dass ich vier Wochen lang in der Stille gelebt hatte. Ich konnte nicht aufhören, mich durch all diese Texte zu Wühlen, gleichzeitig kam es mir aber vor, als würde man mir die Augen mit Streichhölzern aufhalten und eine grell bestrahlte Stroboskopkugel vors Gesicht hängen. An diese Erfahrung muss ich denken, als ich nach einem Monat des ruhigen, freien Arbeitens in die Redaktion zurückkomme.
Es gibt eine Klaviersonate von Robert Schumann, die mit der Tempovorschrift »so schnell wie möglich« beginnt. Einige Takte später heißt es »noch schneller«. So ist das in der Redaktion seit einer Weile auch. Die Zeitung hat weniger Leute als noch vor zwei Jahren, erscheint aber im selben Umfang. Klar, Wirtschaftskrise. Aber genau so klar ist: Internet. Nein, ich will hier nicht den hundertsten getragenen Leitartikel zum Thema Zeitungskrise anstimmen. Ich finde die Zeitung nur ein eindrückliches Beispiel dafür, wie wenig alle geahnt haben, welche Sogkraft das Netz in kürzester Zeit entwickeln würde. Im Nachhinein wirkt es schließlich nahezu
Weitere Kostenlose Bücher